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Das Manische in Gießen


Die Sondersprache „Manisch“ ist eine Gießener Besonderheit. Manche Wörter oder Ausdrücke sind in die Gießener Umgangssprache eingegangen. Doch wo liegen eigentlich die Ursprünge dieser Sprache und von wem und zu welchem Zweck wurde sie gesprochen? Welchen Einfluss hatte sie auf die Stadtentwicklung und welche Bedeutung hat sie heute?

 

Tschü lowi, ballefusser, chefmoss – schon mal gehört? Heute dient das „Manische“ in großen Teilen als Gießener Zugehörigkeitsmerkmal.

In der Stadt begegnen uns in der Umgangssprache viele unverständliche Ausdrücke, auf T-Shirts, Kappen oder Graffitis und selbst eine Basketballmannschaft trägt den zunächst fremd klingenden Namen „Rackelos“.



Das „Manische“ in Gießen: Ursprung und Entwicklung

Häufig wird bei der Betrachtung der Sondersprache „Manisch“ übersehen, dass es sich hierbei um eine Kulturgeschichte handelt, deren Ursprung bis weit ins Mittelalter zurückreicht. 

Die Sondersprache

latsche diwes - Guten Tag

Tschü lowi, ballefusser, chefmoss – was hat es mit diesen Ausdrücken auf sich und wo kommen die eigentlich alle her?

Das sogenannte „Manisch“ ist eine Sondersprache und eine Gießener Einzigartigkeit, die eng mit der Stadtentwicklung verwoben ist. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, also mit dem ersten Ansiedeln der Manisch-Sprechenden in Gießen, wurden diese bewusst aus der Stadtgesellschaft ausgegrenzt und gemieden. Heute jedoch dient das „Manische“ in großen Teilen sogar als Gießener Zugehörigkeitsmerkmal. Die Sondersprache wurde und wird vor allem in den Gießener Stadtteilen Eulenkopf, Margaretenhütte und Gummiinsel gesprochen.

raggerpin - Sprache

Sondersprachen…
… oft auch als Geheimsprachen bezeichnet, sind künstlich erschaffene Sprachen. Ihre Hauptfunktion ist die verschlüsselte Kommunikation innerhalb einer Gruppe. Gleichzeitig distanzieren sie sich dadurch von anderen Gruppierungen und definieren damit ein „Außen“. Das Manische ist so eine Sondersprache mit der Funktion einer geheimen Sprache. Die Sprecher*innen setzen sie in der Regel als Zweitsprache ein und behalten die deutsche Sprache als vorrangig bei. Sondersprachen zeichnen sich durch ihre ausschließlich mündliche Verwendung aus, es existieren meist keine Schriftquellen. Die gruppenfestigende Funktion der Sprache definiert sie als Soziolekt.

Das Rotwelsch…
…ist eine der am weitesten verbreiteten deutschen Sondersprache. Diese künstlich geschaffene Sprache setzt sich aus einer Vielzahl von Vokabeln aus den jeweiligen Spendersprachen zusammen, die innerhalb der deutschen Grammatik genutzt werden. Neben dem Deutschen, Hebräischen, Jiddischen und Romani haben noch weitere Sprachen ihre Spuren im Rotwelschen hinterlassen, jedoch in deutlich geringerem Umfang, z.B. beeinflussten auch das Niederländische und das Französische die deutsche Sondersprache. Durch die Sesshaftwerdung von Rotwelsch-Sprechern kam es zu dialektalen Einfärbungen der Sonderprache, wodurch eigenständige Dialekte entstanden – die sogenannten Rotwelsch-Dialekte.

Jenisch…
…erscheint als Begriff erstmalig in schriftlichen Quellen 1714 in Wien und bezeichnet sowohl einen Rotwelsch-Dialekt als auch eine Personengruppe. Die Herkunft des Wortes Jenisch stammt von einem Wortteil aus dem Romanes: Hier wird dšan- mit der Bedeutung „wissen“ verwendet. Somit bedeutet Jenisch in etwa „kluge Sprache“ und gibt einen direkten Hinweis auf die Eigenbezeichnung der Jenischen. Sie bezeichnen sich als diejenigen, die mehr wissen als andere. Kennzeichnend für das Jenische ist ein ausgeprägter Romanes Wortschatz. Im Gegensatz zu anderen Rotwelsch-Dialekten, die sich von Region zu Region aufgrund von lokalen Dialekten stark unterscheiden, behält das Jenische seine Einheitlichkeit überregional bei.

Das Manische…
… ist in Gießen die umgangssprachliche Bezeichnung für Jenisch und gehört mit über 70 % der genutzten Vokabeln zu den am meisten von Romanes beeinflussten Sondersprachen im deutschsprachigen Raum. Der Begriff selbst wird von Romanes manuŝ abgeleitet, wo es Person, Mensch oder auch Roma bedeutet. Manisch wurde nicht als Eigenbezeichnung genutzt, sondern war stets eine abwertende Fremdbezeichnung, die vor allem der sozialen Klassifizierung durch das Bürgertum diente. Das Gießener Jenisch besitzt keine eigenständige Grammatik, und nutzt stattdessen die Deutsche. Für den Geheimhaltungszweck werden bestimmte Begriffe mit Jenischen Worten ausgetauscht und nach hessischer Mundart ausgesprochen. Das Jenische ist auch in Bad Berleburg, am Richtsberg in Marburg, im Wetzlarer Stadtteil Finsterloh und in Frankfurt Bonames noch im Sprachgebrauch, diese geographische Verortung verdeutlicht die Nord-Süd-Reiseroute der Jenischen in Hessen.

Das Gießener „Manisch“ ist heute ein Teil der lokalen Umgangssprache geworden.

Kulturgeschichte

keri wehlen - nach Hause gehen

Sondersprachen sind eine Kultur der Straße. Sie werden von Gruppen gesprochen, die keinen festen Wohnsitz haben und die meist von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen sind. Die Sprache dient als gruppenfestigendes Element und zur Abgrenzung nach außen. Erste schriftliche Quellen zum Rotwelschen reichen bis ins Mittelalter des 13 .Jahrhunderts zurück und sind vor allem zum Zwecke der Strafverfolgung entstanden, um nichtsesshafte Personen zu klassifizieren und dadurch Kontrolle ausüben zu können.

Einer der ersten Versuche der sozialen Klassifizierung von Personen ist im Liber Vagatorum (um 1510) niedergeschrieben, einer Zusammenstellung und Beschreibung von Bettlertypen. Hierin findet sich auch zum ersten Mal eine schriftliche Übersetzung des Rotwelschen. Bekanntermaßen wurde das Liber Vagatorum über die Ausgabe Martin Luthers von 1528 einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Die Veröffentlichung führte zu einer neuen Wahrnehmung von Armut, Bettlerei und Obdachlosigkeit. Die meist nichtsesshaften Menschen wurden nun vermehrt als Plage betrachtet, die es zu beseitigen galt, da sie keine gottgefällige Arbeit leisteten.

Wichtige historische Ereignisse

Es können drei historische Ereignisse im deutschsprachigen Raum ausgemacht werden, die eine Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung und vor allem den sozialen Abstieg und das nomadische Leben bestimmter Bevölkerungsgruppen bedingten:

Das allmähliche Auflösen der Ständegesellschaft im Spätmittelalter, in dessen Zusammenhang das Liber Vagatorum erschien, bestärkte den Wandel der Gesellschaft und verschärfte die Lage der Armen. Erfolgte ein gesellschaftlicher Abstieg, war der Weg zurück meist nicht mehr möglich – auch nicht für nachfolgende Generationen. Der dreißigjährige Krieg (1618 bis 1648) und die Napoleonischen Kriege (1800 bis 1814) mit allen Auswirkungen eines Krieges, den Hungersnöten und Krankheiten, erschwerte die Situation für den ärmeren Teil der Gesellschaft sehr und ließ die Zahl der nichtsesshaften Bevölkerung im deutschsprachigen Raum stetig wachsen.

Die Jenischen

Es handelt sich um eine gesellschaftliche Randgruppe von reisenden Händler*innen und Handwerker*innen, die seit über 300 Jahren im deutschsprachigen Raum historisch nachweisbar sind. Ein generelles verbindendes Element ist die gemeinsam genutzte Sprache. Wieviele Menschen sich dem Jenischen im deutschsprachigen Raum zugehörig fühlen, kann bis heute nicht genau beziffert werden. Bis zum heutigen Tag sind Jenische von gesellschaftlicher Ausgrenzung und Benachteiligung betroffen; sie werden offiziell als Gesellschaftsgruppe nicht anerkannt.

Ursprünge der Gießener Jenischen

Eine erste Zuwanderungswelle von Jenischen nach Gießen erfolgte nach jetzigem Stand der schriftlichen Quellen aus dem Gießener Umland, dem Vogelsberg und der Wetterau zwischen 1880 und 1900. Eine Zweite schloss sich zwischen 1900 und 1920 aus dem linksrheinischen Raum, der Pfalz und dem Mosel-Saar-Raum an. Vor allem die spätere Zuwanderungswelle verlief entlang der Handelsrouten der Jenischen, die die verschiedenen Gruppen miteinander verband und einen sprachlichen Austausch begünstigte.

Die Schwerpunktbezirke

fore, ispe, wording - Stadt, Wohnung, Wohnwagen

Die sogenannten „manischen“ Schwerpunktbezirke wurden von der Stadtregierung Gießens bewusst zur sozialen Ausgrenzung erbaut und kennzeichnen sich durch ihre Insellage am Rand des Stadtgebiets aus. Die „Margaretenhütte“ ist durch den Güterbahnhof bzw. Bahnhof von der Stadt getrennt. Die „Gummiinsel“ im Westen ist nur über die Lahn erreichbar und die Autobahn A485 markiert die Grenze zum „Eulenkopf“. Ein weiteres, jedoch viel kleineres und unbekannteres, Viertel ist die Lederinsel, die in direkter Nachbarschaft zur Gummiinsel gelegen ist.

Die schwierige Lebenssituation der Bewohner*innen, die von Armut, gesellschaftlicher Stigmatisierung und Ausgrenzung geprägt war, änderte sich erst durch die Unterstützung von Studierendeninitiativen und der Gemeinwesenarbeit ab den 1970er Jahren.

Eulenkopf

Entstanden in den 1950er Jahren für Flüchtlinge und Wohnungslose, bestand das Wohngebiet aus Notunterkünften und Obdachlosenwohnungen. Durch die Studenteninitiative Eulenkopf e.V. um den Psychoanalytiker Horst-Eberhart Richter, erlangte das Viertel In den 1970er Jahren bundesweite Aufmerksamkeit. Gemeinsam mit den Eulenkopfbewohner*innen schaffte die Gruppe es, Druck auf die Stadt auszuüben und die dortige prekäre Lebenssituation der Menschen zu verbessern.

Gummiinsel

Die Siedlung sollte in den 1930er Jahren den Charakter eines Arbeiterviertels bekommen und wurde von den Nationalsozialisten weiter ausgebaut. Die „sozial Geordneten“ sollten von den „Asozialen“ getrennt werden, um Anpassungswillige in die nationalsozialistische Gesellschaft einzugliedern. So entstanden bis Ende 1939 entlang der Krofdorfer Straße ganze 78 Wohnungen. Das neue Viertel in der Weststadt wird bis zum heutigen Tag im allgemeinen Sprachgebrauch als „Gummiinsel“ bezeichnet. Ein Großteil der Bewohner*innen arbeitete für die Gummifabrik Poppe & Co, die vor allem Gummiringe für Einmachgläser herstellte. Durch regelmäßige Überschwemmungen glich das Viertel tatsächlich häufig einer Insel.

Lederinsel

Möglicherweise das ehemalige Arbeiterwohnviertel der Abdeckerei an der Krofdorfer Straße 87. Das Viertel lag in direkter Nachbarschaft zur Gummiinsel. Aufgrund der U-Form umgangssprachlich auch als Hufeisen oder Hufeisensiedlung bezeichnet. In der Wohnanlage, die aus zweistöckigen Flachbauten bestand, lebten schätzungsweise zwischen fünfzig und einhundert Menschen meist in großer Armut. Berichten zufolge wurden die Wohnungen auch von Reisenden – Hausierer, Schirmflicker, Scherenschleifer und dergleichen – als Zwischenstopp genutzt.

Margaretenhütte

Eine große Wohnungsnot nach dem ersten Weltkrieg führte zur Planung und Errichtung eines neuen Viertels am Güterbahnhof mit der Bezeichnung „An der Margaretenhütte“. Aus Kostengründen wurden Güterwaggons als Grundstein dieses Projektes aufgestellt, die im Januar des Jahres 1927 bezugsfähig waren. Aus nur 20 umgebauten Waggons wurden 32 Wohnungen geschaffen. Das Viertel wurde im Laufe der Zeit weiter ausgebaut, so entstand ein erstes soziales Ghetto in Gießen.

Die braune Stadt

 vergadern und rickern - Verstecken und Erinnern

Die Verfolgung und die Ermordungen der Jenischen während der Zeit des Nationalsozialismus sind noch nicht aufgearbeitet und finden kaum gesellschaftliche Beachtung. Das ist unter anderem damit zu begründen, dass Jenische bis weit in die 1970er Jahre hinein nicht als eigenständige Gruppe bezeichnet und in der Aufarbeitung anderer Gruppierungen miteinbezogen wurden. Die Nationalsozialisten fassten die Gruppe der Jenischen unter „Asoziale“ oder „nach Zigeunerart lebende“ zusammen und setzten diese mit den Sinti und Roma gleich.

Auch Gießener Jenische sind von den Nationalsozialisten verfolgt, deportiert und ermordet worden. Aufgrund der ununterbrochenen Marginalisierung und fehlenden Aufarbeitung, wurde die sozialräumliche Ausgrenzung bis in die Gegenwart weiter fortgeführt.

Jedes Jahr wird den Gießener Opfern am 16.März gedacht und ein Blumengebinde am Gedenkstein am Berliner Platz niedergelegt.

sudemuij - die Dummschwätzer

Im Jahre 1935 wurden die „Nürnberger Rassegesetze“ auf Sinti und Roma ausgedehnt. Sie sind dadurch offiziell als gesellschaftliche Bedrohung eingestuft worden, was die spätere Verfolgung und Ermordung legitimieren sollte. Wenig später entstand unter Leitung Robert Ritters die „Rassehygienische Forschungsstelle“ in Berlin, der nun auch sogenannte „Zigeunermischlinge“ und „Asoziale“ mit einbezog. Auch Jenische wurden hierunter gefasst, verfolgt und ermordet.

In Gießen waren die Nationalsozialisten Heinrich-Wilhelm Kranz und Otto Finger maßgeblich für die Verfolgung der Jenischen in Gießen verantwortlich und von Robert Ritters Ausführungen geprägt.

Der Augenarzt Kranz stieg in den 1930er Jahren zum Professor für Erb- und Rassenforschung und war Leiter des Gießener Univeristäts-Instituts für Erb- und Rassenpflege. Seine dreibändige Veröffentlichung „Die Gemeinschaftsunfähigen (Ein Beitrag zur wissenschaftlichen und praktischen Lösung des sog. „Asozialenproblems“)“, mit direktem Bezug zur Universitätsstadt Gießen, stellte die Grundlage zur systematischen Verfolgung, Zwangssterilisierung und Ermordung der Jenischen und Sinti in Gießen und darüber hinaus dar. Otto Finger führte 1937 in seiner Doktorarbeit die Ausführungen seines Doktorvater Kranz weiter fort und erweiterte diese. Beide Arbeiten halten dem wissenschaftlichen Standard nicht stand.


Die Texte basieren auf der Kabinettausstellung DIGGE MAL! Das Manische in Gießen, die 2022 im Museum für Gießen präsentiert wurde.

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