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Heiraten früher und heute - ein Nachlass wird zum Archivschatz

Heutzutage sind Eheverträge selten geworden. Die wenigsten Paare schauen vor dem Standesamt noch beim Notar vorbei. Dabei gäbe es statistisch gesehen allen Grund dazu: Knapp 40% aller Ehen werden aktuell wieder geschieden und ein Vertrag kann dabei viel Stress ersparen. Früher aber war es umgekehrt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lag die Scheidungsrate nur bei etwa 1,5% – und trotzdem waren Eheverträge weit verbreitet. Wie passt das zusammen? Die Antwort darauf gibt ein Ehevertrag von 1803, stammend aus einem neuen Gießener Archivschatz: dem Nachlass der Familie Bücking, die im 19. Jahrhundert zu Gießens bürgerlicher Oberschicht gehörte.

Bereits im Jahr 2021/22 erwarb das Stadtarchiv diese historischen Dokumente. Bei der Erschließung wurde der Nachlass in mehrere Akteneinheiten aufgeteilt, denn er beinhaltete weit mehr als nur den Ehevertrag, der im Folgenden näher betrachtet werden soll: So finden sich in einer der Akten auch zahlreiche Briefe der Gießener Fabrikantentochter Nanny Gail, die 1884 mit Friedrich Bücking verheiratet wurde. Auch aufgrund dieser Verbindung mit der hochangesehenen Familie Gail kommt dem Bestand Bücking für die Stadtgeschichte heute große Bedeutung zu.


In weiteren Akten finden sich zudem Fotografien beider Familien sowie der dienstliche Schriftverkehr des Juristen Karl Bücking, des Vaters von Friedrich Bücking. Manche Dokumente zeigen sogar Ansätze einer eigenen Familienforschung der Bückings auf, die in Form eines Stammbaums bis in das Jahr 1648 zurückreicht. Der zeitliche Schwerpunkt der Nachlassunterlagen liegt allerdings im 19. Jahrhundert. Und aus dieser Zeit stammt auch der Ehevertrag, der die eingangs gestellte Frage beantworten soll, warum Eheverträge damals so verbreitet waren: Es handelt sich um einen „Ehe-Contract“ aus dem Jahr 1803, geschlossen zwischen Hans Martin Bücking (Karl Bückings Vater) und seiner Verlobten Maria Hedwig Bersch.

Um zu verstehen, warum Eheverträge seinerzeit wichtig waren, muss man das Dokument nun genauer betrachten: Es gliedert sich in fünf nummerierte Absätze, wovon jeder eine Vereinbarung des Ehepaares festhält. Aufgenommen wurde dabei natürlich das Bestreben beider Personen, einander zu heiraten, sowie eine schriftliche Erinnerung an beide Parteien, sich danach zeitlebens die Treue zu halten:

„Wollen beyde Verlobte einander
zur Ehe nehmen, haben und behalten,
sich alle eheliche Liebe und Treue Zeit
Lebens erzeigen und beweisen, […]“

Nun könnte man sagen: So weit, so gut. Aber wieso brauchte es dafür einen Vertrag? Die Antwort liefert ein Blick auf die Vermögensregelungen. So findet sich im fünften Absatz eine Vereinbarung für den Fall, dass eine der Personen in der Ehe stirbt, ohne dass Kinder daraus hervorgegangen wären. Wörtlich heißt es:

Auszug aus dem "Ehe-Contract" von Hans Martin Bücking und Maria Hedwig Bersch von 1803 (StdtAG, 88/00/03, Nr. 4)
Auszug aus dem "Ehe-Contract" von Hans Martin Bücking und Maria Hedwig Bersch von 1803 (StdtAG, 88/00/03, Nr. 4)


„daß fals die Jungfer Braut zuerst
verstürbe, dem Bräutigam die
Fünfhundert Gulden Brautgabe
nebst der Ausstattung und ganzen
Errungenschaft erblich zufallen und
verbleiben – im Fall aber der Bräu-
tigam zuerst mit Tode abgehen würde,
der Jungfer Braut das Wohnhauß
in Giesen in dem Werth wofür es
dem Herrn Bräutigam zugekommen
erb und eigenthümlich verbleiben,
dieselbe auch die Fünfhundert Gulden
Gegenlage nebst der Ganzen Errun-
genschaft erben und behalten solle.“

Wie an dieser Passage deutlich wird, hatten Eheverträge damals nichts mit Scheidungsvorbereitung zu tun. Vielmehr ging es um die Sicherung des Familienvermögens im Sterbefall – im männlichen Sterbefall, genauer gesagt. Denn der Tod des Ehemannes als Vorsteher der Familie bedeutete rechtlich die Auflösung der gesamten Vermögensgemeinschaft – ein familiäres Fiasko. Aus diesem Grund musste vorab geklärt werden, was mit dem Vermögen im Sterbefall geschieht. Und in diesem Fall hätte Maria Bücking sowohl das Wohnhaus als auch die Brautgabe in Höhe von 500 Gulden behalten dürfen.

Hier können Sie den handschriftlichen Ehevertrag auf sich wirken lassen - für die eilige Lektüre sei dagegen die Druckschrift-Transkription empfohlen.



Der Ehevertrag aus dem Nachlass Bücking zeigt also, welche Rolle solche Vereinbarungen in vergangenen Jahrhunderten spielten: Sie garantierten die finanzielle Sicherheit der Familie und waren daher mehr Sterbe- als Scheidungsvorsorge. Mit einem Schmunzeln lässt sich also vermuten, dass damals trotz niedriger Scheidungsraten für viele Heiratende galt: Lieber ein Vertrag, Ehe es zu spät ist.

 

Quelle: Adrian Mertes/Stadtarchiv

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