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Forderung zum Duell ,auf der Eulenburg' - ein Brief von 1909 gibt Rätsel auf

Bis vor wenigen Sekunden war alles ruhig und friedlich. Die Blätter raschelten im lauen Sommerwind. Die Vögel zwitscherten in den Bäumen. Es war ein ganz normaler Tag im Sommer im Philosophenwald in Gießen. Doch plötzlich war ein Knall zu hören. Direkt gefolgt von einem zweiten. Die Vögel stoben auf und Stimmen riefen durcheinander. Die friedliche Stille war vom einen Moment auf den anderen zerstört. Was war geschehen?

Antwort auf diese Frage scheint ein mehrfach gefaltetes, handschriftliches Brieflein zu geben, das mehr als hundert Jahre später zusammen mit anderen Unterlagen aus privater Hand dem Stadtarchiv in Gießen überlassen wurde. Es folgt sein Text im Wortlaut (Rechtschreibung und Zeichensetzung sind unverändert):

Erste Seite des Briefes vom 24. Juni 1909
Erste Seite des Briefes vom 24. Juni 1909

Herrn Steinbach! Da Sie mich am 24. Juni 1909 in der Schule öffentlich beleidigt haben, und ich sowohl meine Ehrensachen in Ordnung haben will, als auch als Mitglied des F.I.K.H.A.M. die Pflicht auf Grund der Kriegsartickel § 15 die Pflicht habe, mich in Ehren zu halten, so gebe ich mir die Ehre, Sie auf Pistolen oder Säbel zu fordern. In dem § 15 heißt es nähmlich: „Die Mitglieder des Korps haben die Pflicht, ihre Ehrensachen in Ordnung zu halten und, fals bei Beleidigungen nicht sofort Abbitte getan wird, diese im Duell zu rächen.“ Sie werden also entweder das Duell annehmen oder Abbitte tun. In letzterem Falle werde ich Sie aber öffentlich als Feigling hinstellen. Meine Verpflichtungen auf Sie gehen mit dieser Forderung natürlich zurück! Das Duell wird, auf Ihren Wunsch entweder Pistolen oder Säbel am Samstag, den 3. Juli nachmittags 4 Uhr auf der Eulenburg bei dem Trieb stattfinden. Jedoch erbitte ich mir bis zum 27 l. Mts. die Antwort, ob Sie annehmen, oder nicht. Mein Secundant wird Herr Hans Mettenheimer jr. sein. Beim Pistolenduell Kaliber 5mm. Ich zeichne hochachtend u III Rg P. Wilson jr. Gießen. F.I.K.H.A.M. Sie werden sich die res honoris wohl reiflich überlegen! Bismarckstraße 16 Gießen, den 24. Juni 1909.

Die Eulenburg existiert als solche nicht, im Gegensatz zum ebenfalls erwähnten „Trieb“ bzw. Triebviertel, zu dem auch der Philosophenwald gehört. Die fiktive Eulenburg lag womöglich auf der wenige hundert Meter entfernten Hügelkuppe mit dem Namen Eulenkopf (der Hügel wurde später abgetragen und in der Nähe nach 1945 die Siedlung Eulenkopf errichtet). Neben den äußeren Umständen interessiert natürlich, mit welchen Personen wir es hier zu tun haben. Wer sind die Duellanten „Herr Steinbach“, „P. Wilson jr.“ und der Sekundant Hans Mettenheimer?

Hinweise enthält der Text einige - wenden wir uns aber erst dem Überlieferungszusammenhang zu. Der Brief stammt aus Unterlagen, welche die Erben des zeitweise in Gießen lebenden und wirkenden Künstlers Heinrich (Hans) Erwin Steinbach (1896-1971) dem Archiv übergaben. In der Hauptsache bieten diese Dokumente Einblicke in das Leben des unbekannteren Vaters, Heinrich Steinbach. Der 1871 in Hanau geborene Ingenieur ließ sich nach Berufsstationen in Sarajewo, Budapest und Darmstadt 1908 mit der Familie in Gießen nieder und war anfangs als Kulturinspektor, später als Baurat tätig. Galt die Forderung an „Herrn Steinbach“ also ihm?

Indizien und die Recherche in Adressbüchern und in der Personenstandskartei des Stadtarchivs legen einen anderen Schluss nahe. So nennt das erhaltene Kuvert als Adressat „[…] Steinbach jr.“. Folglich handelt es sich bei dem Empfänger wohl um Heinrichs Sohn: Heinrich (Hans) Erwin.

Peter Wilson Jr., der Briefeschreiber, entpuppt sich bei Sichtung der Karteikarten als Sohn von Peter W. Wilson, Inhaber der Firma Tonwerk in Hüttenberg, Leihgestern (selbst wiederum Sohn des in Gießen bekannten Bergwerksdirektors Peter Wilson [1828-1892]). Auch wenn diese Familie die englische Staatsbürgerschaft hat, sind der Junior und seine Schwester Marion in Gießen geboren. Der Vater des Sekundanten Hans Mettenheimer wiederum besitzt in der Kreuzgasse ein Geschäft, in dem Ton- und Glaswaren verkauft werden.

Aber wie endete nun das Duell? Darüber schweigen die Quellen. Falls es stattfand, ist zu vermuten, dass keiner der Beteiligten ernsthaft verletzt wurde - Gegenteiliges ist zumindest nicht bekannt. Dass keiner getötet wurde, ist jedoch sicher, da Peter Wilson jr. auch viele Jahre später nachweislich noch in Gießen lebt und Heinrich (Hans) Erwin Steinbach - wie bekannt ist - später ein bildender Künstler wurde.

Wer die Schilderung aufmerksam verfolgt hat, dürfte aber über ein Detail stolpern, das das Duell in ein besonderes Licht rückt und sein tatsächliches Stattfinden zweifelhaft erscheinen lässt. Denn Heinrich Steinbach jr., Peter Wilson jr. und Hans Mettenheimer wurden alle im Jahr 1896 geboren. Das heißt, dass sie zur Zeit des Geschehens im Jahr 1909 höchstens 13 Jahre alt sind. Auch die Schule als Ort der Beleidigung und einige markante Orthographie- und sonstige Flüchtigkeitsfehler weisen auf die Jugend des Verfassers hin. Ist der Brief also eher ein Streich unter Pennälern? Das ist wahrscheinlich. Möglich wäre auch, dass die Jugendlichen sich nur beweisen wollten, wie erwachsen sie schon sind, oder was sie sich trauen. Ganz aus der Luft gegriffen war das Szenario aber keineswegs, war doch nur wenige Jahre zuvor, 1904, am großherzoglich-hessischen Gymnasium (heute: Landgraf-Ludwigs-Gymnasium) eine der verbotenen Schülerverbindungen aufgeflogen. Hatte es mit den Kriegsartikeln also doch etwas auf sich? Waren Wilson und Steinbach Schüler-Korporierte? Das muss offen bleiben.

Feststeht: Sollte das Duell in der Tat stattgefunden haben, war es gewiss mehr Pose und Spiel als lebensgefährlich. Zeugen wären neben den Sekundanten am ehesten die Bäume und Vögel in der Umgebung gewesen.

 

Quelle: Leonie Reinhardt/Schülerpraktikantin im Stadtarchiv (unter Mitarbeit von Christian Pöpken)

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