Erleben

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Schottstraße 34 - Marianne Krombach

Marianne Krombach
*15.01.1930 in Gießen
Aufenthalt ab 01.12.1938 in veschiedenen Heilanstalten
gestorben am 06.06.1941 in der Landesheilanstalt Eichberg im Rheingau
Stolperstein verlegt am 17.10.2023

 

Standort Stolperstein Schottstraße 34


Marianne Krombach wurde am 15. Januar 1930 in Gießen geboren und wohnte mit ihrer Mutter und ihren drei Geschwistern in der Schottstraße 34 in Gießen. Sie wurde unehelich geboren. Ihre Eltern waren der Arzt und SS-Oberscharführer Dr. med. Eberhard Krug und die Verkäuferin Elisabeth Maar, geb. Krombach. Marianne und ihre Mutter waren evangelischen Bekenntnisses.

Mariannes leiblicher Vater Dr. med. Eberhard Krug war zum Zeitpunkt der Geburt in der Universitätsklinik Gießen als Volontär tätig. Er war Frauenarzt und verbrachte einen Großteil seines Studiums in Gießen. Dr. Krug trat bereits am 01.04.1933, kurz nach Machtübernahme Hitlers, dem NS-Ärztebund, der NSDAP und der Motor-SS in Gießen bei. Zum Beitritt in die SS äußerte sich Dr. Krug im Rahmen des Entnazifizierungsverfahrens wie folgt: „In die SS bin ich eingetreten, um den Eintritt in die SA zu vermeiden, welche in Gießen zahlreiche minderwertige Elemente enthielt, mit denen ich jede Berührung vermeiden wollte.“ Er beteuerte, er sei kein leitender Träger in der SS gewesen und hätte spätestens ab 1938 dem Regime im tiefen Inneren kritisch gegenübergestanden. Durch seine freiwillige Meldung zum Kriegsdienst an der Waffe habe er seinen Angaben zu Folge eine weitere aktive Tätigkeit für die SS vermieden und nicht an den mörderischen Aktionen mitgewirkt. Nachgewiesen ist, dass er auch nach 1939 noch aktiven Kontakt zu jüdischen Bürgerinnen und Bürgern hielt. Dennoch stellte der Entnazifizierungsausschuss fest, dass Krug überzeugter Nationalsozialist gewesen sei und den Nationalsozialismus unterstützt habe. Es ist davon auszugehen, dass Krug bis zu seinem Tod verschwieg, dass er der leibliche Vater von einem von den Nazis ermordeten Kind war, auch wenn er finanziell für den Unterhalt von Marianne aufkam.

Aus den Vormundschaftsakten des Sozialamtes Gießen ist dem Eintrag vom 3. März 1931 zu entnehmen, dass Marianne ein gesundes und kräftiges Kind sei. „Die Großeltern Krombach pflegten Marianne trotz ihrer elf eigenen Kinder so gut sie können. Der Kindesvater zahlt pünktlich. Die Kindesmutter ist im Consumverein Ladenmädchen.“

Im November 1931 hatte Mariannes Mutter die Absicht, gemeinsam mit Ihrer Tochter nach Amerika auszuwandern, verfolgte dieses Ziel jedoch nicht weiter. Im Mai 1934 stellte das Sozialamt fest, dass Marianne sich in gutem Entwicklungszustand befinde, die körperliche Pflege jedoch „zu wünschen übrig“ lasse. Sie mache den Eindruck, dass sie geistig nicht normal sei, aber auf jeden Fall sehr nervös ist.

Im Frühjahr 1935 wurde Marianne in der Kinderklinik Gießen untersucht. Es wurde festgestellt, dass Marianne im Alter von zwei Jahren wohl eine Hirnhautentzündung durchgemacht habe, die lebenswichtige Funktionen zerstört hat. Nachdem ab 1936 für den „Fall Krombach“ im Gießener Sozialamt eine andere – dem Nationalsozialismus nahestehende - Sachbearbeiterin zuständig wird, ändert sich die Wortwahl in den Protokollierungen drastisch und es ist nun zu lesen, dass Marianne zwar körperlich gesund und kräftig sei, nach Ansicht der Sachbearbeiterin jedoch geistig vollständig „idiotisch“. „Ihr ganzes Benehmen hat entschieden etwas Tierisches“ vermerkt die Sachbearbeiterin am 4. Juli 1936 in der Akte des Sozialamtes.

Im Juli 1937 vermerkte die Sachbearbeiterin Anni Koch in der Akte, dass Mariannes Mutter die Pflege des Kindes kaum noch ertrage. Mariannes körperlicher Zustand habe sich inzwischen verschlechtert und sie sei von einer motorischen Unruhe befallen. Das jüngere Kind habe eine Kinderlähmung durchgemacht und ist in der Bewegungsfreiheit seines linken Beines und rechten Armes noch sehr eingeschränkt. Außer diesen beiden Kindern habe Frau Maar noch zwei eheliche Kinder, die gesund seien. Frau Maar sei durch die schwere Pflege der beiden ältesten Kinder körperlich „sehr heruntergekommen“ und würde durch ihren Mann, der mit einer Musikkapelle herumziehe, keine Unterstützung erfahren.

Der Schwiegervater von Mariannes Mutter sprach Ende Juli 1938 im Sozialamt vor und erklärte, dass Elisabeth Maar ihre Kinder vernachlässige, diese oft schon ab 17 Uhr sich selbst überlassen seien, da Frau Maar ausgehe und sich mit „Mannspersonen herumtreibe“. Der Schwiegervater gibt überdies an, Frau Maar beobachtet zu haben, wie sie sich nachts in Begleitung anderer Männer befand. Sein Sohn befinde sich in einem Konzentrationslager.

Aufgrund dieses Berichtes wird Marianne Krombach fortan von der Großmutter Elisabeth Maar versorgt, die in der Frankfurter Straße 175 in Gießen wohnte. Die Großmutter Elisabeth Krombach gibt gegenüber dem Sozialamt an, dass sie und ihr Mann keinen Einfluss mehr auf ihre Tochter Elisabeth Maar hätten und nur „einfach mit „mannstoll“ zu bezeichnen“ sei. Frau Maar möchte eine Stelle in der Kasernenküche annehmen und die anderen drei Kinder tagsüber in der Krippe versorgen lassen.

Da sich Mariannes Zustand weiter verschlechterte, wies Elisabeth Maar ihre Tochter am 1. Dezember 1938 in die Anstalt Kalmenhof in Idstein ein. In Idstein wurde Marianne mit der Diagnose „Postencephalitis [Anm. d. Autors: Reversible Verhaltensänderung aufgrund der Hirnhautentzündung] und Schwachsinn bei spastischen Lähmungen“ aufgenommen. Die Kosten für die Unterbringung von Marianne trägt das Wohlfahrtsamt Gießen (1,80 RM täglich).

Das dem Aufnahmebogen beigefügte Kleiderverzeichnis legt nahe, dass Familie Krombach in finanziell durchschnittlichen Verhältnissen gelebt haben muss. Marianne verfügte über 1 Mütze, 1 Mantel, 1 Kleid, 1 Unterrock, 4 Beinkleider, 1 Leibchen, 2 Taghemden, 2 Nachthemden, 2 Strümpfe, Taschentücher sowie zwei Paar Schuhe. 

Der Kalmenhof-Akte ist zu entnehmen, dass Marianne reizbar sei, mit den Händen um sich schlage, mit dem Kopf wackele, mit der Zunge schnalze und mit den Zähnen knirsche. Da Marianne Aufforderungen und Befehlen nicht nachkomme sei sie „nicht bildungsfähig“, so die Schlussfolgerung des behandelnden Arztes.

Am 31. Januar 1939 wird Marianne in die Landesheil- und Pflegeanstalt in Gießen verlegt. Im Aufnahmeeintrag ist zu lesen, dass Marianne lacht und sich freue. Sie hat ein eitriges Ohr (rechts), ist am Körper sauber, jedoch unrein. Bei ihrer Aufnahme in Gießen wiegt sie 18,5 kg und ist 115 cm groß. Sie spricht zwar nicht, lache aber viel. Darüber hinaus trägt man in die Rubrik „Erblichkeitsverhältnisse“: „Mutter minderwertig“ ein.
Während ihrer Unterbringung in Gießen wird Marianne des Öfteren von ihrer Großmutter und Mutter besucht und freut sich sehr, diese zu sehen. Der Akte ist zu entnehmen, dass Marianne überwiegend einen guten Nachtschlaf habe. Nach dem Aufwachen ist sie sehr lebhaft, strampelt mit ihren Beinen und lacht viel (Eintrag vom 13. Februar 1939).

Dem Schlussbericht des Oberarztes der Landesheil- und Pflegeanstalt Gießen vom 6. September 1939 ist – entgegen den vorherigen Einträgen in der Patientenakte - zu entnehmen, dass Marianne voll und ganz der Hilfe der Pflegerinnen bedürfe, hilflos und in Allem unselbstständig sei. Sie sei oft unrein und lag tagsüber im Bett. Marianne musste zwar gefüttert werde, nahm jedoch stets ausreichend zu sich. Sie sei „sonst in ihrer Art sehr freundlich“ und lache. Sie knirsche zeitweise sehr laut mir ihren Zähnen und laufe nur auf ihren Zehenspitzen. Es sei eine medikamentöse Therapie versucht worden, Marianne hatte jedoch in dieser Zeit eine gelbliche Gesichtsfarbe, weshalb die medikamentöse Therapie eingestellt wurde.

Am 29. September 1939 wurde Marianne „aus Räumungsgründen“ in die Hessische Landesheil- und Pflegeanstalt Philippshospital Goddelau verlegt. Kurz nach ihrer Aufnahme wurde bei Marianne wegen des Verdachts auf Diphterie ein Rachenabstrich durchgeführt, der positiv war. Sie wurde daraufhin isoliert. Nach dreimaligem negativem Abstrich wird Marianne am 14. November wieder deisoliert.

Am 12. Februar 1940 wird in Ihrer Akte vermerkt, dass sie in ihrem Verhalten „recht wechselnd“ sei, manchmal lache, dann jedoch wieder plötzlich weine und nicht äußert, warum, weil sie nicht spricht. In der Akte wird auch berichtet, dass sie zeitweise am ganzen Körper zittere. Am 25. Januar 1941 wird berichtet, dass sich an Mariannes Brustbein eine etwa „kleinkinderkopfgroße, weiche, prall gefüllte Geschwulst“ entwickelt habe, die nicht druckempfindlich sei. Es wird eine Fistel tuberkulösen Ursprungs festgestellt. Marianne wird darauf hin wieder isoliert. Die Brustbeintuberkulose bei Marianne besserte sich nach Aktenangaben nicht wesentlich.
Ob Marianne tatsächlich an einer Lungentuberkulose erkrankte, ist zweifelhaft. Vielmehr ist davon auszugehen, dass bei Marianne Impfversuche mit Tuberkulose Erregern vorgenommen wurden, die in mehreren Anstalten an behinderten Kindern durchgeführt wurden.

Am 5. Juni 1941 wird Marianne „auf Anordnung“ in die Heil- und Pflegeanstalt Eichberg (Eltville) verlegt. Der behandelnde Arzt in Goddelau schrieb in seinem Abschlussbericht, dass Marianne „vollkommen idiotisch, ohne Bindung und Beziehung zur Umwelt“ sei und „tiergleich dahinvegetiere“. Der körperliche Zustand sei infolge der Brustbeintuberkulose schlecht. Diese Abschlussdiagnose bedeutete für Marianne das Todesurteil.
Der erste und letzte Eintrag nach der Aufnahme von Marianne in der Landesheilanstalt Eichberg im Rheingau ist auf den 6. Juni 1941 datiert: Heute 20 Uhr gestorben.

Wie aus der Benachrichtigung hervorgeht, soll Marianne um 19 Uhr in der dortigen Kinderfachabteilung gestorben sein. Todesursache laut Sterbeanzeige ist eine „Knochen-Lungentuberkulose und Herzschwäche bei Idiotie“.

Kinderfachabteilung Eichberg

Der ärztliche Leiter, Dr. Walter Schmidt, dessen Unterschrift die Trostbriefe an Mariannes Angehörige tragen, gab bei Visiten das Kommando zum töten, indem er sagte: „Der gefällt mir nicht mehr“. Im Eichberg Prozess wurde er zunächst zum Tode verurteilt, dann zu lebenslang, dann zu 10 Jahren begnadigt und 1953 freigelassen. Danach wurde er wieder als Arzt tätig, trotz entzogener Approbation.“1
Die „Kinderfachabteilung“ in der Landesheilanstalt Eichberg wurde März 1941 eingerichtet und bestand bis März 1945.

In der sog. „Kinderfachabteilung“ wurden mehr als 500 Kinder, die mit körperlichen und/oder seelischen Beeinträchtigungen geboren waren, ermordet. Oft wurden die Kinder vor dem Hintergrund medizinischer „Forschungen“ um ihr Leben gebracht. Diese Kinder wurden zuvor an der Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik unter Carl Schneider untersucht und danach zur Tötung auf dem Eichberg eingewiesen. Ihre Gehirne wurden anschließend nach Heidelberg zu „Forschungszwecken“ zurückgesandt. Zur Unterbringung der „Kinderfachabteilung“ wurde ein bestehendes Gebäude als Kinderbaracke in Betrieb genommen. Die Kinderbaracke existiert heute nicht mehr. Auf dem Eichberg wurden 1942 zwei „Therapiestationen“ eingerichtet, um Schocktherapieverfahren zu testen. Unklar bleibt, ob die Ärzte bei diesen Versuchen den Tod der Patientinnen und Patienten tolerierten oder ihn gar bezweckten.

Darüber hinaus verfügte die „Fachabteilung“ auf dem Eichberg über ein Isolierzimmer. Dort bekamen die Kinder überdosierte Morphium- oder Luminallösungen gespritzt. In den Mitleidsbekundungen gaben die Anstaltsärzte oftmals „Lungenentzündung“ oder „Tuberkulose“ als Todesursache an. Tatsächlich führte das Luminal u. a. zu Atemlähmung, an die sich nicht selten eine Lungenentzündung anschloss.
Marianne ist eines der 500 Kinder, welche im Rahmen der „Kindereuthanasie“ durch die Nazis ermordet wurden.

Eltern, die Protest erhoben, wurden mit drohendem Hinweis auf die Gestapo ruhiggestellt. Es gab aber auch etliche, die den Tod ihres Kindes erleichtert zur Kenntnis nahmen.

In der Phase der sog. „dezentralen Euthanasie“ wurden die in der Anstalt Eichberg befindlichen Patientinnen und Patienten tausendfach durch Vernachlässigung, Verhungernlassen oder die Verabreichung überdosierter Schlaf- und Beruhigungsmittel ermordet, da sie nach der Doktrin des NS-Regimes als „unnütze Esser“ galten. Auf dem Eichberg wurden bereits 1938 Patienten durch Nahrungsentzug zu Tode gebracht. Spätestens ab 1942 begannen Medikamentenmorde; die Patienten wurden aber auch durch eiskalte Bäder zu Tode gebracht.

Marianne Krombach wurde auf dem Gräberfeld des Eichbergs an unbekannter Stelle bestattet. Die Lage ihres Grabes ist nicht mehr zu ermitteln.

 

Text: Markus Huth

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