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Beschleunigter Wandel im 19. Jahrhundert

Aus größerer Distanz betrachtet bot Gießen am Ende des Alten Reiches das Bild einer altertümlichen, ökonomisch rückständigen Stadt mit einer ziemlich heruntergekommenen Festung in einem hochverschuldeten Territorium, mit einer noch relativ unbedeutenden Universität. Eine Zukunftsperspektive war nicht in Sicht.
Die Französische Revolution und die in der Rheinbundzeit ausgelösten Reformschübe führten zu tiefgreifenden Veränderungen der Rahmenbedingungen. Das Heilige Römische Reich, welches über Jahrhunderte die Garantie - Institution für die Vielfalt der alten Gesellschaft bildete, war 1806 weggefallen. Auf die Städte hatte dies die Auswirkung, daß sie, soweit sie im Laufe des 18. Jahrhunderts noch nicht in die jeweiligen Territorien integriert worden waren, nun dem ungehinderten Zugriff der jeweiligen Landesherrn ausgeliefert, bis auf wenige Ausnahmen, ihren Sonderstatus und ihre Selbstverwaltungskompetenzen verloren. Fortan gab es in der Regel nur Städte, die den Einzelstaaten untergeordnet und in deren Funktionsgefüge integriert waren.
Für Gießen hatte dies aber auch die Folge, daß die Stadt ihre Festungsfunktion und wenig später auch ihren Status als Garnisonsstadt verlor. In der Zeit zwischen 1803 und 1810 fielen die Stadtwälle auf Anordnung des Landesherrn. Unter Beteiligung der Bürgerschaft, die über Jahrhunderte zu seiner Erhaltung verpflichtet gewesen war, wurde der Festungsgürtel niedergelegt. Die landesherrliche Regierung hatte sogar als Anreiz für die Einebnung der Stadtwälle die Wallgrundstücke denjenigen kostenlos als Bauland überlassen, die diese Arbeiten freiwillig übernahmen. Dennoch tastete sich die Stadt nur zögernd über diese jetzt imaginäre Grenze hinaus und nur langsam beschleunigte sich der Wandel.
Grundlegend für den auch in Gießen beginnenden Wandel war unter anderem die Einführung einer neuen einheitlichen Kommunalverfassung 1821 und deren allmähliche Weiterentwicklung zur Selbstverwaltung der Kommunen. Damit verbunden war die Ausstattung der Gemeinden mit Aufgaben und Kompetenzen, die es ihnen ermöglichte, auf die kommenden Herausforderungen angemessene Antworten zu finden. Durch weitere Verwaltungsreformen wurde Gießens Zentralitätsfunktion erhalten und gestärkt. Neben Stadt- und Provinzialverwaltung wurde Gießen nun auch noch Sitz der Verwaltung des Kreises Gießen.
Hauptsächlich die Universität und die ersten Ansätze einer industriellen Produktion waren nun die Faktoren, welche die Attraktivität der Stadt stärkten und neue Impulse vermittelten. Aus der Enge der Stadt drängte die Universität hinaus. Nach dem Abzug der Garnison übernahm sie seit 1824 das neue, zunächst für das Militär errichtete Kasernengebäude auf dem Seltersberg. In einem Teil jenes neuen Kasernengebäudes, das hauptsächlich als erste moderne medizinische Klinik in Gießen genutzt wurde, hatte Justus Liebig sein Laboratorium und begann von hier aus seine wissenschaftliche Karriere, die der Universität zu überregionaler Bedeutung verhalf.


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