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Industrialisierung und kommunale Aufgaben

Georg Philip Gail
Georg Philip Gail
Anstöße zu einer Industrialisierung gingen in Gießen von der Tabakverarbeitung aus. Auf die Gründung der ersten Rauchtabakmanufaktur durch Georg Philipp Gail 1812 folgten rasch weitere Firmengründungen. Damit wurde ein Produktionszweig geschaffen, der bis in unser Jahrhundert hinein die Erwerbsstruktur der Region wesentlich mitbestimmte. Die Tabak- und Zigarrenfabrikation blieben bis ins 20. Jahrhundert hinein ein wesentlicher Faktor im Gießener Wirtschaftsleben.

 
Erst mit dem Bau der Eisenbahn und den damit verbundenen günstigen Transportbedingungen waren die Voraussetzungen für eine tiefergehende Industrialisierung geschaffen, aus der sich die neue Funktion der Stadt als Industrie- und Gewerbestandort entwickelte. Mit einer gewissen Verzögerung begannen sich nach der Jahrhundertmitte, auch in und um Gießen moderne Industrien anzusiedeln. Dabei bildete sich ein relativ vielfältiger Gewerbesektor heraus: Erzbergbau, Metallindustrie, Tonwaren und Ziegelfabrikation, daneben aber auch noch ein hoch entwickeltes Dienstleistungsgewerbe und ein breites Handelsspektrum. Die gestiegenen Anforderungen an schulische und berufliche Ausbildung förderten in Gießen die Entstehung einer außerordentlich vielseitigen Schullandschaft, die dank der verbesserten Verkehrsbedingungen weit ins Umland hinein ausstrahlte. Diese Funktionen ermöglichten zwar insgesamt kein rasant beschleunigtes Wachstum, erleichterten aber durch ihre Vielfalt das Überstehen von Krisen.

Auf dem Marktplatz
Auf dem Marktplatz
(Bsp. bei wirtschaftlicher Monostruktur, z. B. in Wetzlar Buderus, wird die Krise der Eisenerzeugung und Verarbeitung wesentlich schwerer wiegen, als in Gießen, dessen Wirtschaft zwar Eisenerzeugung und Verarbeitung aufwies, aber eben nur neben einigen anderen wirtschaftlichen Standbeinen).
Nach ersten Ansätzen seit Ende der zwanziger Jahren begann um die Jahrhundertmitte eine gezielte und planmäßige Stadterweiterung, wobei die Bautätigkeit nun endgültig die Grenzen der ehemaligen Festungsanlagen überschritt. Die Bevölkerung wuchs im Zeitraum zwischen 1840 und 1900 von 7.200 auf 25.500 Einwohner. Im Zusammenhang mit dieser Entwicklung sah sich die Stadt vor die gleichen Probleme gestellt, die überall in Deutschland auf die Kommunen zukamen: die Versorgung der rasch wachsenden Bevölkerung mit Wohnraum, sauberem Trinkwasser, mit Energie und Nahrungsmitteln. In Gießen übernahm die Stadtverwaltung bereitwillig diese Aufgaben. Es folgte eine Phase, in der, bei konstanten äußeren Rahmenbedingungen, Impulse zu Veränderungen wesentlich aus der Stadt selbst hervorgingen.

Schon kurz nach der Mitte des Jahrhunderts war für Gießen eine Gasgesellschaft konzessioniert worden, die Kohlegas produzierte und zunächst die Beleuchtung von Straßen und Plätzen der Stadt sicherstellte, später aber auch Kochgas lieferte. Die Fragen der Hygiene stellten sich ebenfalls in immer dringlicherer Weise. Folgerichtig baute die Stadt einen eigenen Schlachthof, zunächst innerhalb der Stadt und später etwas außerhalb, jenseits der Lahn. Gleichermaßen intensiv waren die Bemühungen um die Sicherstellung der Versorgung ihrer Bewohner mit sauberem Wasser. Quellen außerhalb der Stadt wurden gefaßt und über Wasserleitungen in die Stadt geleitet. Ein eigenes Wasserleitungsnetz innerhalb der Stadt stellte bald auch die Versorgung der Haushalte sicher.

Frischwasserquelle in Queckborn
Frischwasserquelle in Queckborn
Als Konsequenz erfolgte kurz darauf die Errichtung einer Kanalisation und einer Kläranlage, die die Abwässer aus der Stadt ableitete und reinigte, ehe sie in die Lahn flossen. Die Übernahme des Gaswerks in städtische Regie sowie die Errichtung eines eigenen Elektrizitätswerks dokumentieren das Bemühen der Stadt zur Sicherung einer kostengünstigen, von privaten Interessen unabhängigen Energieversorgung. Ein Verfahren, das mit der Übernahme der Straßenbahngesellschaft korrespondierte und mit der Errichtung der Gießener Stadtwerke seinen Abschluß fand. Unter dem Schlagwort "Munizipalsozialismus" ist dies ein Kennzeichen der allgemeinen städtischen Politik, bei der davon ausgegangen wurde, daß zur Aufrechterhaltung einer kostengünstigen Grundversorgung aller Schichten der Bevölkerung es Aufgabe der Kommunen sei, diese Versorgungsleistungen unabhängig von Gewinninteressen zu erbringen. Auf diese Weise entstanden eine große Anzahl der kommunalen Eigenbetriebe und Versorgungsunternehmen, die heute, in einer gegenläufigen Bewegung, vor der Privatisierung stehen.

Komplementär dazu begann die Stadt Gießen die Aufgabe der kulturellen Versorgung zu übernehmen. Mit großer Unterstützung aus der Bürgerschaft wurde das städtische Theater errichtet und in ganz ähnlicher Weise verfuhr man beim Bau des Volksbades.

An der Schwelle zum ersten Weltkrieg hatte Gießen den Sprung in die Moderne geschafft. Aus der kleinen Landstadt, die noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht wesentlich über ihren frühneuzeitlichen Bestand hinausgewachsen war, entstand eine Mittelstadt mit moderner Gewerbe- und Infrastruktur. Repräsentative Bauten erhoben sich entlang der ehemaligen Festungsanlagen.

Der Gießener Hauptbahnhof
Der Gießener Hauptbahnhof
Das Bahnhofsgebäude wurde den gewachsenen Bedürfnissen angepaßt, und auch die Universität hatte sich, vor allem im Verlauf der Frankfurter Straße, mit dem Bau von Kliniksgebäuden ausgedehnt. Funktionen als Verkehrsknotenpunkt, Standort von Gewerbe und Industrie, Universitätsstadt, als Verwaltungs-, Schul- und Dienstleistungszentrum sowie nach der Rückkehr des Militärs 1867 als Garnisonsstadt machten die Attraktivität und Leistungsfähigkeit der Stadt aus und trugen ihr die Bezeichnung "Metropole Oberhessens" ein.

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