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Dr. Siegfried und Martha Kann

Dr. Siegfried Kann, Lehrer am Landgraf-Ludwig-Gymnasium von 1909-1933

Beschäftigt man sich mit dem LLG in der Zeit des Nationalsozialismus, so denkt man wohl an erster Stelle an das tragische Schicksal von Dr. Kann, der als Jude Opfer der Nazidiktatur geworden ist. Zahlreiche Erinnerungen an ihn sind von Kollegen und ehemaligen Schülern festgehalten und in mehreren Ausgaben der Epistula der Schulöffentlichkeit seither bekannt gemacht worden. Bereits in der Festschrift anlässlich des 350jährigen Jubiläums der Schule im Jahre 1955 hat Direktor Dr. Glöckner in einem Beitrag seines ehemaligen Kollegen gedacht. Im Jahre 1996 hat das Kollegium im Foyer des Hauses A eine Gedenktafel für Dr. Kann anbringen lassen. Die Erinnerung an ihn soll nun auch in der Festschrift des Jubiläumsjahres 2005 wach gehalten werden.

Siegfried Kann wurde am 4. Juni 1886 in Mainzlar geboren. Seit 1896 besuchte er das Landgraf-Ludwig-Gymnasium. Nach dem Abitur im Jahre 1904 studierte er an der Gießener Universität Latein und Griechisch. Im Jahre 1908 promovierte er mit einer Arbeit über die attische Komödie, die er - wie zu dieser Zeit für Altphilologen allgemein üblich - in lateinischer Sprache verfasste. Ab 1909 lehrte er an unserer Schule. Übereinstimmend wird berichtet, dass er ein ausnehmend guter, geschätzter und beliebter Lehrer gewesen sei, bei aller für die Zeit üblichen konservativen Ausrichtung doch offen für neue, die Schüler motivierende Unterrichtsmethoden.

Im Jahre 1914 meldete sich Dr. Kann auf Grund seiner patriotischen Gesinnung als Kriegsfreiwilliger. Während des Krieges wurde er zum Leutnant, später zum Hauptmann befördert. Für seine Tapferkeit erhielt er zunächst das Eiserne Kreuz 2. Klasse, später wurde er sogar mit dem EK I ausgezeichnet. Als Folge einer Schrapnellverletzung behielt Dr. Kann eine tiefe Narbe in der Stirn zurück, eine Silberplatte musste Teile der Schädeldecke ersetzen. Nach dem Krieg heiratete er Frau Martha Jakoby. Mit den Töchtern Hilde und Else bezog die Familie die Wohnung in der ersten Etage des Wohnhauses in der Liebigstraße 37.

Bereits kurz nach der Machtübernahme der Nazis am 30. Januar 1933 kündigte sich die für die Familie so tragische Entwicklung an: Am 25. April 1933 erhielt das LLG vom Regierungspräsidium in Darmstadt die Anweisung, Dr. Kann unverzüglich aus dem Schuldienst zu entlassen. Grundlage war das sogenannte "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April, das die Beschäftigung von Juden im Staatsdienst untersagte. Zahlreiche ehemalige Kollegen und Schüler erinnerten sich, dass Dr. Kann am 28.4., seinem letzten Tag als Lehrer unserer Schule, einen schwarzen Anzug trug mit seinem EK I am Revers.

Wie virulent der Antisemitismus aber bereits während der Weimarer Republik war, mag aus einer Mitteilung deutlich werden, die Herr Achaz von Thümen, Abiturient am LLG im Jahr 1930 und ehemaliger Schüler von Dr. Kann, vor einigen Jahren in einem privaten Brief gemacht hat: Ein Mitschüler und er hätten die Entlassung von Dr. Kann als große Schande empfunden und sich bei dieser Gelegenheit daran erinnert, dass bereits bei einem nationalen Treffen der Weltkriegsteilnehmer im Jahre 1925 der jüdische Frontkämpferbund auf Veranlassung des Reichspräsidenten Hindenburg ausdrücklich ausgeladen worden sei.

Nach seiner Entlassung wurde Dr. Kann vom Studienrat zum Oberlehrer zurückgestuft und war noch einige Jahre an der "Jüdischen Bezirksschule" in Bad Nauheim tätig. Gleichzeitig betreute er Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Gießen und Umgebung. Nach der Pogromnacht 1938 wurde die "Jüdische Bezirkschule" aufgelöst und Dr. Kann fortan von der Gießener Stadtverwaltung wie alle verbliebenen Juden zu Straßenreinigungsarbeiten eingesetzt. Kollegen und Mitschüler, die dessen gewahr wurden, berichten übereinstimmend, wie schockierend diese Begegnungen gewesen seien, auch wegen der bereits unübersehbar schlechten gesundheitlichen Verfassung von Dr. Kann. Den kurzen Gesprächen, die diese Begegnungen begleiteten und welche von Dr. Glöckner, von Gisela Weckemann (geb. Bühler) und von Helmut Gros wiedergegeben wurden, ist eines gemeinsam: Dr. Kann hat diese Kommunikation mit dem Hinweis auf das Risiko, welches ein Gespräch mit einem Juden für den Betreffenden bedeutete, jeweils rasch unterbrochen. Besonders besorgt reagierte er, als ihm sein ehemaliger Schüler Helmut Gros in der Licher Straße in Offiziersuniform gegenübertrat.

Wahrscheinlich 1941 musste die Familie Kann in das Ghettohaus für Juden in der Landgrafenstraße 8 umziehen. Es wird berichtet, dass die öffentlichen Demütigungen zunahmen. Einmal sei Dr. Kann von einer Horde junger Nazis bedrängt worden. Auf seinen Hinweis, er sei Kriegsteilnehmer und Offizier gewesen, habe man einen Rabbiner herbeigeholt und ihn gezwungen, diesen in Kasernenhofmanier herumzukommandieren.

Anfang September 1942 wurden die in Gießen verbliebenen Juden in die Turnhalle der Goetheschule verbracht, ihre Deportation erfolgte am 17.09.1942. Frau Kann und die Töchter Hilde und Else wurden in Auschwitz vergast, er selbst starb am 19. Februar 1943 im KZ Theresienstadt an Unterernährung und Entkräftung.

Quellen
Charisteria, Festschrift zum 350jährigen Bestehen des LLG Gießen 1955
Epistula 53, 1984
Epistula 64, 1995
Private Korrespondenz mit Herrn Achaz von Thümen und Herrn Otto Hammer (Neffe von Dr. Kann)

 

Text: Gunter Weckemann
aus: Festschrift 400 Jahre Landgraf-Ludwigs-Gymnasium 1605 - 2005, Gießen 2005, S. 96-97 (mit freundlicher Genehmigung des Autors)

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