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Politische und wirtschaftliche Entwicklung

Die veränderten Rahmenbedingungen durch die Zugehörigkeit zu Hessen und die damit verbundene Förderung durch den neuen Stadtherrn steigerte ihre Attraktivität und setzten im 14. und 15. Jahrhundert einen allmählichen Wachstumsprozeß in Gang. In einem noch nicht genau geklärten Wüstungsprozeß wurden umliegende Siedlungen aufgegeben. Deren Bewohner zogen zum Teil in die Stadt und brachten ihre Grundstücke in das Gießener Stadtgebiet ein, was die Gemarkung erneut wachsen ließ. Durch diese Vorgänge blieb die Ökonomie der Stadt für die nächsten Jahrhunderte, bis weit in die frühe Neuzeit hinein, auf die landwirtschaftliche Produktion hin ausgerichtet. Grundlage hierfür war die hauptsächlich für die Viehzucht (Schafe, Rinder und Schweine) nutzbare, große Gemarkung. Aufgrund dieser Entwicklung hatte Gießen bis ins späte zwanzigste Jahrhundert die größte Stadtgemarkung in Hessen. Dies scheint auch den Interessen der hessischen Landgrafen entsprochen zu haben, denn gezielte Stimulierungen des Gießener Gewerbesektors von ihrer Seite sind nicht festzustellen. Genau dies, die große, landwirtschaftlich nutzbare Gemarkung, machte dann die eigentliche Leistungsfähigkeit Gießens aus. "Die Verankerung der Stadt auf einer breiten agrarischen Grundlage sicherte ihr wirtschaftliche Stabilität" in einer kleinräumigen Städtelandschaft. Der Wert Gießens bestand für die Landgrafen von Hessen in der strategisch günstigen Lage, in der militärischen Bedeutung, als Verwaltungssitz und in seiner Versorgungsfunktion. Die Stadt gehörte mittlerweile, in der Mitte des 15. Jahrhunderts, aufgrund ihrer Steuerkraft zu den bedeutendsten Städten der Landgrafschaft. In Oberhessen nahm sie den zweiten Rang gleich hinter dem traditionsreicheren Marburg ein.
In Gießen bildeten sich nun immer deutlicher weitere Zentralitätsfunktionen heraus. Es bestand eine Schule, die auch Schülern des Umlandes als Ausbildungsstätte zur Verfügung stand. Die Stadt bekam im 15. Jahrhundert zwei Jahrmärkte verliehen. Von hier aus verwalteten landgräfliche Beamte die hessischen Besitzungen der näheren Umgebung. Gießen war Sitz eines Amtmannes. Dies bedeutete allerdings auch eine stärkere Kontrolle durch den Stadtherrn. Eine größere Selbständigkeit und Unabhängigkeit von den hessischen Landgrafen zu erlangen, war unter diesen Voraussetzungen nicht möglich. Eine gewisse "Emanzipation" der Stadtbürger innerhalb ihrer Stadt läßt sich allenfalls an der Siegelentwicklung Gießens belegen, wo die "oppidanorum gizin", die Gießener Stadtbürger, auf einem seit 1371 belegten Siegel, ohne Nennung der in stadtherrlichen Diensten stehenden Burgmannen, als alleinige städtische Vertreter fungieren. Dieser städtischen "Emanzipation" in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts standen in den folgenden Jahrzehnten Eingriffe des Stadtherrn gegenüber, der sich weitgehende Kontroll- und Eingriffsrechte sicherte. Doch handelte es sich dabei um kein isoliertes Phänomen, das allein Gießen betraf. Es stand im Zusammenhang mit den Bemühungen zur Errichtung eines hessischen Territoriums. Die politische und wirtschaftliche Integration der hessischen Lande kostete viel Geld und machte einen stärkeren Zugriff des Landesherrn auf die Städte notwendig. Der Landgraf erreichte damit vor allem eine Ausweitung seines finanziellen Spielraums und eine Einschränkung der städtischen Autonomie. Gleichzeitig wurde damit der Status quo derart zementiert, daß eine Veränderung aus Kräften der Stadt allein nicht mehr möglich war.
Gießen blieb eine Agrarstadt. Ein über die Befriedigung des lokalen Bedarfs hinausgehendes Gewerbe entwickelte sich nur in Ansätzen: lediglich das Wollweberhandwerk produzierte zeitweise für den überregionalen Markt. Haupterwerbszweig blieb die Landwirtschaft, denn "wichtiger als der Handel mit Tuchen" war die Dienstleistungsfunktion der Stadt im Rahmen der landesherrlichen Politik. Gießen war Versorgungsstation und Lieferant landwirtschaftlicher Produkte. Bis dahin blieb Gießen eine relativ unbedeutende Kleinstadt, fest im Griff des Stadtherrn, die sich nur durch ihre Steuerkraft und ihre strategische Lage, als südlicher Außenposten des sich bildenden hessischen Territoriums auszeichnete. Kräfte zu einer Veränderung von innen heraus fehlten. So mußte der Anstoß zum ersten große Umschwung in der Gießener Stadtgeschichte von außen kommen.


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