Stadtmauerfund Seltersweg: Mächtige Mauer auf 1450/51 gefällten Holzpfählen
Update: Vorläufige Ergebnisse der archäologischen Untersuchung
Wie bereits berichtet, wurden im Zuge des zweiten Abschnitts der Fernwärmeverlegung im Seltersweg (zwischen Wolkengasse und Kinogasse) mehrere Mauerzüge freigelegt.
Besonderes Aufsehen erregte eine quer zum Selterswerg verlaufende Mauer von über acht Metern Mächtigkeit. Auf Grund dieser Ausmaße liegt ein Zusammenhang mit einer militärischen Befestigung der Stadt nahe. Auf Bestreben der Unteren Denkmalschutzbehörde der Stadt Gießen wurde, zusätzlich zum benötigten Fernwärmegraben, ein über drei Meter tiefer Suchschurf angelegt. Es war zu vermuten, dass auch diese Mauer auf Grund des schwierigen, sumpfigen Baugrunds auf einer Gründung aus Holzpfählen ruht.
In enger Abstimmung mit der Unteren Denkmalschutzbehörde konnte so datierbares Material geborgen werden. Die nun vorliegenden Ergebnisse der dendrochronologischen Laboruntersuchungen der Universität Köln ergänzen ein weiteres Puzzlestück zur Geschichte der Stadt.
Die untersuchten Holzpfähle wurden alle im Winter 1450 und Frühjahr 1451 gefällt. Dementsprechend ist die auf diesen Pfählen ruhende Mauer kein Teil der durch Landgraf Philipp II. errichteten „Festung Gießen“. Die Bauarbeiten an diesem imposanten, die gesamte Stadt umschließenden Bollwerk finden erst ab dem Jahr 1530 statt.
Wie vorangegangene archäologische Untersuchungen gezeigt haben, wuchs die Stadt Gießen von ihrem Kern, der Wasserburg Giezzen am Rande des heutigen Kirchenplatzes, ab 1152 langsam zu einer Stadt an. Im Zuge dessen wurde die mittelalterliche Stadtmauer mehrfach erweitert.
Die nun vorliegenden Befunde und Laborergebnisse sind zumindest ein Indiz für eine bisher unbekannte Umwehrung des südwestlich an den Stadtkern anschließenden und spätestens ab dem frühen 15. Jahrhundert bewohnten Siedlungsbereich im Spätmittelalter.
Der dritte und letzte Abschnitt der Fernwärmeverlegung im Bereich des Seltersweges hat vor kurzem begonnen. Im Vorfeld wurde auf Empfehlung der Unteren Denkmalschutzbehörde bereits eine Bodenradaruntersuchung des betroffenen Areals durchgeführt, um den Arbeitsablauf und die archäologischen Arbeiten optimal aufeinander abstimmen zu können. Die Voruntersuchungen lassen auch in dieser Fläche Funde erwarten.
Über die Ergebnisse dieses Bauabschnitts werden wir ebenfalls an gewohnter Stelle berichten.
Update vom 11.07.2024:
Archäologische Untersuchungen schreiten weiter voran
Die im Zuge der Fernwärmeverlegung im Seltersweg durchgeführten archäologischen Untersuchungen schreiten weiter voran. Die Vermutung der Fachleute, einen Teil der Festungsmauer aus den 1530er Jahren angeschnitten zu haben, scheint sich aktuell zu bestätigen. In den vergangenen Tagen wurden zur genauen Altersbestimmung Hölzer aus dem Fundament der Mauer geborgen. Diese musste wegen des schwierigen Baugrunds auf Eichenpfähle errichtet werden. Dank des hohen Grundwasserspiegels zwischen Lahn und Wieseck, sind diese Hölzer auch nach fast 500 Jahren sehr gut erhalten.
Auf Grund der Tiefe der Fundamente, ab etwa drei Metern unter dem heutigen Seltersweg und um die Funde nicht zu beschädigen, mussten die Arbeiten mit größter Vorsicht durchgeführt werden. Eventuell kann durch die Datierung der Funde eine Lücke der Gießener Stadtgeschichte endlich geschlossen werden. Denn wie die „Festung Gießen“ in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens aussah, ist bis heute nicht genau bekannt.
Im aktuellen Bauabschnitt sind die archäologischen Arbeiten somit größtenteils abgeschlossen. Nun gilt es die gesammelten Informationen zu sichten und auszuwerten. Selbstverständlich wird auch der noch anstehende Bauabschnitt in Richtung Anlagenring durch die Archäologen betreut. Sobald die Ergebnisse der Altersbestimmung vorliegen, wird die Untere Denkmalschutzbehörde darüber informieren.
Update vom 18.06.2024:
Stadtwerke planen Bauarbeiten im Seltersweg um
Bei den Bauarbeiten im Seltersweg sind Arbeiter auf Reste der historischen Stadtmauer gestoßen. Damit ist der Zeitplan für die Erschließung der Straße mit Fernwärmeleitungen hinfällig. Während die Archäologen der Unteren Denkmalschutzbehörde die wertvollen Funde – Mauerreste aus den 1530er Jahren – derzeit in mühevoller Handarbeit freilegen und dokumentieren, haben die Stadtwerke Gießen (SWG) kurzfristig umdisponiert. „Wir sind in sofortige Gespräche mit allen Beteiligten gegangen und haben gemeinsam mit den Verantwortlichen der Stadt, des Denkmalschutzes und dem BID, dem Business Improvement District Seltersweg, eine, wie wir hoffen, für alle Seiten gangbare Lösung gefunden“, fasst Matthias Funk, der Technische Vorstand der SWG, die Ergebnisse zusammen.
Neuer Ablauf der Bauarbeiten
Der Plan sieht vor, dass der ursprünglich dritte Bauabschnitt, die Leitungsverlegung zwischen Goethestraße und Wolkengasse, vorgezogen und wiederum in drei kleinere Abschnitte unterteilt wird. So haben die Arbeiten nun auf Höhe der Goethestraße bereits begonnen und verlaufen anschließend in Richtung Wolkengasse. Hier öffnen die Arbeiter die Straße nur etappenweise und verschließen die Teilstücke so schnell wie möglich wieder. „Dadurch, dass wir sofort auf die unvorhersehbare Verzögerung reagiert und die Bauarbeiten umgeplant haben, sind wir jetzt in der Lage, den Zeitverlust durch die archäologischen Arbeiten, soweit es uns möglich ist, zu reduzieren“, betont Matthias Funk. Auch Markus Pfeffer, Geschäftsführer des BID Seltersweg, wurde in die Planungen mit einbezogen. „Natürlich ist so eine Baustelle eine Belastung für die Händlerinnen und Händler im Seltersweg. Dank des schnellen Austauschs und in enger Abstimmung konnten die SWG jedoch die Gesamtmaßnahme in kürzester Zeit erfolgreich umplanen, sodass die Einschränkungen so gering wie möglich ausfallen. Selbstverständlich bleibt in der neuen Planung sichergestellt, dass die Geschäfte auch während der Bauzeit für alle Kundinnen und Kunden gut erreichbar sind“, teilte der Geschäftsführer mit.
Störungsfrei zum Stadtfest
Selbstverständlich spielt bei den Überlegungen auch das kommende Stadtfest eine wichtige Rolle. Die SWG planen, die Oberfläche des Seltersweges rechtzeitig so weit herzustellen, dass Besucherinnen und Besucher ohne nennenswerte Störungen über Gießens Flaniermeile zum Stadtfest gelangen können. Matthias Funk hofft auf Verständnis: „Wir bitten Händlerinnen und Händler sowie Bürgerinnen und Bürger um Geduld. Natürlich werden wir alles in unserer Macht Stehende tun, um einen möglichst reibungslosen Ablauf der Festivitäten zu garantieren“.
Zeitplan Fernwärmeausbau ungewiss
Bereits Anfang Mai hatten die SWG mit der Verlegung der Fernwärmeleitungen im Seltersweg begonnen. Kurz danach kam es aufgrund des Streiks der IG Bauen-Agrar-Umwelt zu ersten Verzögerungen – mit weitreichenden Folgen: Da die Tiefbauarbeiten ruhten, konnten nachfolgende Gewerke ihre Arbeiten nicht zum ursprünglich geplanten Termin beginnen. Der detaillierte Ablaufplan kippte: Das gesteckte Ziel, die Baustelle vor dem Stadtfest fertigzustellen, war schon zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu halten. Wann die Bauarbeiten zum Abschluss kommen können, ist durch den Fund der Mauerreste aktuell nicht absehbar. „Die bedeutsame Bergung eines Teils der Stadtgeschichte macht es zum derzeitigen Zeitpunkt unmöglich, eine Einschätzung über den zeitlichen Ablauf des Fernwärmeausbaus im Seltersweg abzugeben“, beschreibt Matthias Funk. Sobald die Ausgrabungsarbeiten beendet seien, werde die SWG alles daransetzen, den Fernwärmeausbau im Seltersweg so schnell und effizient wie möglich zum Abschluss zu bringen, so der Technische Vorstand weiter.
Quelle: Stadtwerke Gießen AG
Erstmeldung 06.06.2024:
Reste der Stadtmauer bei Bauarbeiten im Seltersweg gefunden
Reste der alten – in den Jahren um 1530 erbauten - Stadtmauer sind bei Bauarbeiten zur Fernwärmeversorgung im Seltersweg gefunden worden. Diesen Fundort hatten die Archäologen so nicht erwartet. Deshalb ist er für die Geschichtsschreibung der Stadt von Bedeutung. Mit diesen und anderen Zeugnissen der Vergangenheit an anderen Stellen versucht die Archäologie – einem Puzzle gleich – Vergangenes zu rekonstruieren. Wo genau lief die Mauer? Wie war die damalige große Befestigungsanlage der Stadt beschaffen? Diesen und anderen Fragen kommt die Wissenschaft mit jedem Fund im Boden näher. Im Seltersweg werden die Geschichtsarbeiter nun das alte Gestein freilegen und genauestens dokumentieren, was sie gesehen haben. Denn nach der Dokumentation werden die Mauerreste wieder im Boden verschwinden. Wer also künftig über die Einkaufsmeile flaniert, sollte sich bewusst sein, dass er auf durchaus historischem Boden geht und hier vor mehr als 500 Jahren - von einer großen Mauer geschützt - gelebt und gearbeitet wurde.
Für die Baustelle im Seltersweg bedeutet der Fund zunächst, dass die Arbeiten an der Verlegung der Fernwärme-Rohre verzögert werden. Allerdings ist allen Beteiligten bewusst, dass die Bergung eines Teils der Stadtgeschichte einerseits, andererseits aber auch die Funktionsfähigkeit der Handelsmeile Innenstadt bedeutsam sind. Das heißt: Die Zeiten, in denen der Seltersweg durch die Baustelle beeinträchtigt sind, sollen möglichst kurz gehalten werden. Deshalb werden die Zeitpläne der Arbeitenden – Archäologen wie Bauarbeiter – eng miteinander abgestimmt: damit die Fernwärme in die Häuser kommt, die Einkäufer ausgiebig shoppen können und die Stadtgeschichte weitererzählt werden kann.
[Ergänzung der Unteren Denkmalschutzbehörder der Stadt Gießen vom 07.06.2024:
Bei dem Fund im Seltersweg handelt es sich um mehrere Mauerzüge. Die baubegleitende archäologische Freilegung und Dokumentation der Mauerzüge erfolgt derzeit durch eine lokale Fachfirma in enger Abstimmung mit der Unteren Denkmalschutzbehörde der Stadt Gießen. Auf Grund von Lage und Aufbau des Fundes ist eine Zugehörigkeit zum Bestand der „Festung Gießen“ aus dem 16. Jahrhundert wahrscheinlich. Aktuell scheint es sich um einen älteren Mauerabschnitt zu handeln, der möglicherweise Teil des ursprünglichen Festungsbaus war, sowie um einen jüngeren Abschnitt, der Teil einer der späteren Erweiterungen der Festung sein könnte. Da die Befunde erst am Dienstag und Mittwoch (04.und 05.06.2024) freigelegt wurden, ist eine sichere Zuordnung aktuell noch nicht möglich. Die Arbeiten dauern noch an. Ein Abschlusstermin kann derzeit noch nicht genannt werden.]