Im Alter von 104: Gießens Ehrenbürger Bar Menachem ist tot
Stadt legt Kondolenzbuch aus
In seiner Geburtsstadt Gießen wird aus diesem Grund ab Samstag Halbmast geflaggt. Ab Montag liegt im Rathaus am Berliner Platz ein Kondolenzbuch aus, in dem sich Bürgerinnen und Bürger der Stadt eintragen und damit Abschied nehmen können.
Nach jüdischer Tradition wird Dr. Bar Menachem bereits am Sonntag in Netanya bestattet. Oberbürgermeisterin Grabe-Bolz und Stadtverordnetenvorsteher Egon Fritz werden an der Trauerfeier in Israel teilnehmen. In Gießen wird es zu späterer Zeit eine Trauerfeier geben, zu der die jüdische Gemeinde Gießen zusammen mit der Stadt einladen wird.
Bar Menachem wurde 1912 als Alfred Gutsmuth in Wieseck geboren. Dort verbrachte er Kindheit und Jugend. Nach seiner Schulzeit in Wieseck und an der Gießener Liebigschule studierte er Jura an der Gießener Universität. Als Jude wurde er von den mittlerweile an die Macht gelangten Nationalsozialisten nicht mehr zum Referandarsexamen zugelassen. Sein Doktorvater, Prof. Mittermaier, ermöglichte ihm jedoch noch die Promotion zum Dr. jur.
Anfang 1934 flüchtete Bar Menachem in richtiger Voraussicht des drohenden Unheils für die jüdische Bevölkerung nach Holland. Nach einer dortigen Tischlerlehre emigrierte er 1938 nach Palästina, wo er einen Kibbuz mit aufbaute. Schnell übernahm er, der bereits in Gießen 1930 der SPD beigetreten war, auch dort politische Verantwortung, wurde stellvertretender Bürgermeister und von 1967 bis 1970 und von 1974 bis 1978 Oberbürgermeister der 180.000-Einwohner-Stadt Netanya in Israel.
1978, 33 Jahre nach Ende des Massenmordes an den europäischen Juden, begründete Bar Menachem die Partnerschaft Netanyas mit seiner Geburtsstadt Gießen – eine der ersten israelisch-deutschen Partnerschaften. Ein Weg, der für die Juden Israels und auch für Bar Menachem selbst, der seiner eigenen Wurzeln gewaltsam entrissen wurde, kein leichter war. In ergreifenden persönlichen Reden hat der Gießener Ehrenbürger zu vielen Anlässen als Zeitzeuge geschildert, welch langer und steiniger Weg zwischen anfänglicher kompletter Abkehr und innerer Abwehr gegenüber Deutschland und seinem Geburtsort, über Zweifel und Misstrauen bis hin zu seiner gereiften Überzeugung nach Martin Buber, dass „nur Versöhnung auch Versöhnung bringt“, ihn dazu bewegt haben, als einer der großen Triebfedern den Dialog mit dem Volk der Täter wieder aufzunehmen.
Begonnen hatte die Wiederannäherung an seine Geburtsstadt mit einem Besuch des damaligen Oberbürgermeisters Gießens und späteren Hessischen Ministerpräsidenten Albert Osswald in Netanya 1960 und einem ersten Besuch Bar Menachems in Gießen 1964. Bis die Städtepartnerschaft im Jahre 1978 gegründet wurde, lagen lange Jahre der Vertrauensarbeit auf beiden Seiten.
Auch in der Folgezeit wirkte Bar Menachem unermüdlich für die Aussöhnung, gewann Mitstreiter und warb um Unterstützung für seine Arbeit – in Netanya und in Gießen. Er besuchte seinen Geburtsort und die hiesige jüdische Gemeinde regelmäßig – erst in den letzten Jahren war es ihm aufgrund seiner körperlichen Verfassung nicht mehr möglich, zu reisen.
Dr. Bar-Menachem wurde aufgrund seines Lebenswerkes 1987 das Ehrenbürgerrecht der Universitätsstadt Gießen verliehen. Zuvor war er 1982 mit der Hedwig-Burgheim-Medaille und 1983 mit dem Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet worden.