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Von der ,Lebensmacht Dichtung'

Überraschendes aus dem Nachlass des Gießener Feuilletonisten Otto Gärtner

Als Otto Gärtner im September 2015 im hohen Alter von 92 Jahren verstarb, war dies über die Grenzen Gießens hinaus wohl vor allem für die Theaterliebhaber ein großer Verlust. Hatte der ehemalige Feuilleton-Chef der Gießener Allgemeinen Zeitung doch über mehr als drei Jahrzehnte fast alle Schauspiel- und Musik-Inszenierungen sowie die Sinfoniekonzerte des Stadttheaters mit Herzblut und hohem Anspruch kritisch begleitet und dabei so manches Mal für das Weiterbestehen des kulturpolitisch und finanziell oft in Frage gestellten Drei-Sparten-Hauses energisch und maßgebend Partei ergriffen. Auch ist er als Verfasser von Reiseführern und als Leiter vieler Exkursionen nach Griechenland, in die Türkei, nach Israel und in andere Länder in nachhaltiger Erinnerung geblieben.Sein schon zu Lebzeiten dem Stadtarchiv übereigneter Nachlass (Signatur: 88/28) steht nunmehr seit zwei Jahren – verzeichnet und katalogisiert in 27 Archivkisten - einer interessierten Öffentlichkeit zur Einsicht zur Verfügung.

Otto Gärtner, der im Jahre 2008 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, hat das heimische Kulturleben jahrzehntelang nachhaltig mitgeprägt. Er war u.a. Ehrenpräsident der Deutsch-Griechischen Gesellschaften in Wiesbaden und Gießen, Ehrenmitglied des Oberhessischen Geschichtsvereins, Mitglied des Gießener Rotary Clubs, des Gießener Gesellschaftsvereins und mit seinen Schenkungen für die Antiken-Sammlung des Oberhessischen Museums dessen dezenter Förderer.

Der umfangreiche Nachlass enthält unter anderem seine Materialsammlungen, Promotions- Dokumente, Beispiele seiner beruflichen und privaten Korrespondenz sowie Rede-Manuskripte und Exkursions-Materialien. Von ganz besonderem Wert sind Otto Gärtners maschinenschriftlich transkribierte „Auszüge aus früheren Tagebüchern“ der Jahre von 1939 bis 1943.

Tagebucheintrag vom 27.7.1939 - Der Obersekundaner Otto Gärtner über einen »dramatischen Versuch«; StdtAG 88/28, Nr. 10
Tagebucheintrag vom 27.7.1939 - Der Obersekundaner Otto Gärtner über einen »dramatischen Versuch«; StdtAG 88/28, Nr. 10

Die reinschrift des Galilei (dramatischer Versuch) ist schon gut gediehen. Der erste gedanke, das schicksal dieses großen gelehrten des 17. jahrhunderts zur fabel eines trauerspiels zu machen, kam mir schon vor etwa 2 jahren. Lange blieb der stoff liegen, er formte sich nur allmählich. Die verteilung der charaktere auf beide seiten vollzog sich nach und nach, mit der zeit kristallisierten sich die wirklichen hauptpersonen, die außerordentlichen menschen, heraus, jetzt endlich in diesem jahr begann die niederschrift die als erste zu bezeichnen ist.“*

Schon sehr früh setzt sich Otto Gärtner zum Ziel, der Literatur zu „dienen“. Sein Vorbild war der exzentrische, egomanische Dichter Stefan George (1868-1933), dem der junge Soldat im Krieg an der Ostfront seine zentrale und veritable Identitätsfindung verdankt.

Tagebucheintrag vom 30.1.1942; StdtAG 88/28, Nr. 10
Tagebucheintrag vom 30.1.1942; StdtAG 88/28, Nr. 10

Gerade hier wo das monotone gleichmaß militärischen getriebes leicht die geister versauern läßt. Das leben ist reicher geworden, ich sehe nun mit anderen helleren augen die zukunft. Wenn erst die verschiedenen fasern des herzens sich nach dem neuen gesetz gerichtet haben, wenn die durchdringung vollzogen sein wird, dann glaube ich an ein leben nach diesem gesetz. Dann will ich dem Meister ein hohes mal setzen in dem ständigen steigern durch die Tat.

Dass sich der junge Marburger Student der Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie, unmittelbar nach seinen Kriegserlebnissen, von der „Lebensmacht Dichtung“ leiten lassen will, dokumentieren auch seine nachgelassenen maschinenschriftlichen Briefentwürfe an den Friedberger Essayisten und Lyriker Fritz Usinger (1895-1982), in denen er für seine eigenen Gedichte einen ‚Paten‘ und Förderer suchte.

Briefentwurf vom 25.10.1946; StdtAG 88/28, Nr. 119
Briefentwurf vom 25.10.1946; StdtAG 88/28, Nr. 119

Wenn vertrauen das kriterium für das verhältnis zum dichter ist, so erkenne ich vor Ihnen das eine am andren. Dieses vertrauen ermutigt mich zu einer bitte... Deshalb möchte ich Ihnen, wenn Sie mir die freiheit vergönnen, einige gedichte vorlegen, um Ihr urteil zu hören.

Die Nachlass-Dokumente, die Otto Gärtners Werdegang vom jungen Studenten bis zum gestandenen Journalisten und Feuilleton-Chef begleiten, belegen schon früh sein weitgefächertes kulturelles Interesse und die Entwicklung einer imponierenden belletristischen Kompetenz. Das Herzstück des Gärtner-Nachlasses ist aber zweifelsohne eine fast lückenlose über 700 Zeitungsauschnitte umfassende Sammlung seiner Kritiken der Theater-Inszenierungen und Konzerte der Jahre von 1950 bis 1988, stellen sie doch eine unschätzbare theatergeschichtliche Aufführungs-Chronik des Gießener Schauspielhauses dar.

 

*Otto Gärtners Original-Schreibweise und -Interpunktion wurden beibehalten. Sie orientieren sich an der Orthografie Stefan Georges. Ein Manuskript von Gärtners „Galilei“ liegt leider nicht vor.

 

Quelle: Eckhard Ehlers/Stadtarchiv

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