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17.02.2023

Überraschungsfund: Reste der zerstörten ehemaligen Synagoge freigelegt

Im Zuge der Vorbereitungen zur Erweiterung des Foyers der Gießener Kongresshalle wurde in den vergangenen Wochen ein Teil der Fundamente der ehemaligen „Neuen Synagoge“ der Israelitischen Religionsgemeinde durch Archäologen freigelegt. Die Synagoge ist dem Vernichtungswillen der Nationalsozialisten in der Pogromnacht am 10.11.1938 zum Opfer gefallen ist. Der Blick auf ihre Reste offenbare auch einen Blick auf ein düsteres Kapitel der eigenen Geschichte, sagte Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher anlässlich einer Pressebesichtigung des Grabungsfeldes mit Denkmalschutz-Dezernentin Astrid Eibelshäuser und Grabungs- und Denkmal-Experten. Zuvor hatte der OB die jüdische Gemeinde in Gießen während eines Rundgangs über den Fund informiert.

Bei den Bauarbeiten an der Kongresshalle sind komplette Mauerzüge des Kellers ans Tageslicht gekommen. Im Schutt, der den Keller des Gebäudes völlig ausfüllte, konnten aufgrund der sorgfältigen Arbeit der Archäologen unter Leitung der Unteren Denkmalschutzbehörde noch Reste von Gebetbüchern und Ledereinfassungen in hebräischer Schrift geborgen werden. Diese Zeugnisse des einstigen blühenden jüdischen Lebens wurden geborgen und befinden sich derzeit in der Restaurationswerkstatt des Landesamtes für Denkmalpflege in Wiesbaden.

Die seit Mitte November laufenden Arbeiten an der Kongresshalle befinden sich in der Abschlussphase. Der gesamte mittlere Bereich der Synagoge konnte freigelegt, untersucht und dokumentiert werden. Der Bereich ist nicht für Besichtigungen geöffnet. Die Stadt bittet alle Interessierten darum, in Rücksicht auf die Funde nicht auf das Gelände zu gehen. In den nächsten Wochen sollen öffentliche Führungen angeboten werden. Darüber wird in Kürze informiert.

Wie mit den Funden umgegangen wird, wird nach der Vorlage eines Abschlussberichts des Landesamtes für Denkmalpflege zwischen Stadt und Landesamt entschieden. Die Reste sind nach Einschätzung der Bezirksarchäologin Dr. Sandra Sosnowski vom Landesamt „sehr gut erhalten“.

Die Synagoge, die seinerzeit die größte in Gießen war, wurde im Zuge der nationalsozialistischen Pogrome am 10.November 1938 bis zu den Grundmauern zerstört. Sie war eines von zwei jüdischen Gotteshäusern. Auch die zweite Gießener Synagoge in der Steinstraße wurde 1938 in der Novembernacht von Nationalsozialisten niedergebrannt.

Die "Neue Synagoge" am Ort der heutigen Kongresshalle wurde zwischen 1865 und 1867 errichtet und auf Grund der angewachsenen Gemeinde 1892 erweitert. Sie war das größte jüdische Gotteshaus in Gießen und ein angesehener Ort jüdischen Kultur und Religion mitten in der Stadt.

Zur Geschichte des Pogroms (aus „Heimatgeschichtlichen Wegweiser“, 1996):
"Beim Pogrom am 10. November 1938 brannten die beiden Synagogen in der Südanlage und in der Steinstraße, angezündet von Männern, die der SA angehörten – manche waren Akademiker -, ihre Uniform aber nicht trugen, um der Brandstiftung den Schein der „berechtigten Entrüstung unserer Volksgenossen“ zu geben, wie der „Gießener Anzeiger“ am 11. November mitteilte. Lehrer der benachbarten Schulen führten ihre Kinder mit derselben Darstellung zu den Brandplätzen. „Brandschutz“ leisteten als Mittäter die Männer der Feuerwehr, die den Brand hätten löschen können, aber nur die Nachbarhäuser bespritzten. Opfer von Diebstählen und Flammen wurden die Inneneinrichtungen und Kultgegenstände. Wenige Tage später ließ die Stadtverwaltung die Grundmauern sprengen und den Schutt abtragen, an dem zahlreiche Gießener für Auffüllarbeiten Interesse hatten.

Vor der Kongresshalle am Berliner Platz/Südanlage erinnert eine Gedenktafel, deren Text mit dem einer weiteren Tafel in der Steinstraße 8 fast identisch ist:

Gedenkstein für die ehemalige Synagoge vor der Kongresshalle
Gedenkstein für die ehemalige Synagoge vor der Kongresshalle

In memoriam.
1867 – 1938
stand an dieser Stelle die
ältere der beiden Synagogen
der Jüdischen Gemeinde
unserer Stadt. Beide Gottes-
häuser wurden am 10.11.1938
von Nationalsozialisten niedergebrannt.

 

Die Brandstiftungen waren begleitet von einer Verhaftungswelle unter der jüdischen Bevölkerung. Sie wurde in den beiden örtlichen Zeitungen so dargestellt, als  hätten sich diese Menschen „freiwillig in Schutzhaft begeben“. Mehrere Geschäfte wurden demoliert und geplündert.

Für die meisten der verhafteten Männer führte der Weg ins KZ Buchenwald, wo sie qualvolle Wochen verbrachten, bis sie Auswanderungspapiere vorlegten und/oder bereit waren, ihren Grundbesitz zu verkaufen. Die Notlage der jüdischen Eigentümer nützten zahlreiche christliche Mitbürger aus, um auf dem Wege der „Arisierung“ Grundstücke und Betriebe unter ihrem tatsächlichen Wert zu erwerben."

Nach der NS-Herrschaft wurden Anklagen gegen die mutmaßlichen Haupt-Drahtzieher des Pogroms erhoben. Im sogenannten "Synagogenbrandprozess" mit Februar 1948 wurden alle fünf wegen Landfriedensbruch angeklagten Beschuldigten mangels Beweisen freigesprochen. Mehr dazu: 

 

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