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Gießen als Festung

Dies geschah, als Philipp der Großmütige von Hessen die Stadt im 16. Jahrhundert zur Festung ausbaute. Bis dahin war Gießen nicht mehr, aber auch nicht weniger militärische Bedeutung zugekommen als anderen hessischen Städten. Nun wurde die Stadt planmäßig um ein Mehrfaches ihrer ursprünglichen Flächenausdehnung erweitert und mit modernen Befestigungsanlagen umgeben. Gleichzeitig wurde die gesamte Stadt zum militärischen Sicherheitsbereich erklärt. Bei dieser Entscheidung war einzig der Wille des Landesherrn ausschlaggebend, ohne Reflex auf einen bestehenden Bevölkerungsdruck im Inneren der Stadt. Die Stadterweiterung war allenfalls ein Nebenprodukt; entscheidend war die strategische Zielsetzung und das militärtechnische Erfordernis. Den Hintergrund dieser militärstrategischen Initiative bildete zum einen das Streben des geltungsbewußten Landgrafen Philipp, Hessen einen herausgehobenen Platz unter den deutschen Mächten zu sichern, zum anderen kann sie als eine Abwehrreaktion des protestantischen Landesherrn auf die gegenreformatorische Eindämmungspolitik des Reiches verstanden werden. An der Spitze des Schmalkaldischen Bundes (gegründet am 27. Februar 1531) stellte Philipp die Weichen für eine mehr als 250jährige Phase der Gießener Stadtgeschichte und legte damit auch den äußeren Rahmen für ihre Entwicklungsmöglichkeiten fest.

Kein Ergebnis gefunden.

Durch den militärischen Ausbau war die Stadt und Festung Gießen aus der Zahl der hessischen Landstädte herausgehoben. Lediglich Rüsselsheim und Ziegenhain verfügten zum damaligen Zeitpunkt über ähnlich moderne Befestigungsanlagen. Weiterreichende Impulse auf wirtschaftlichem Gebiet gingen von der Festung auf die Stadt jedoch nicht aus. Abgesehen von punktuellen Stimulierungen des städtischen Handwerks während einzelner Bauphasen und in Kriegszeiten, veränderte sich die städtische Ökonomie während der Festungszeit kaum. Eine speziell auf den Bedarf der Festung ausgerichtete Umgestaltung des Gewerbesektors fand nicht statt, auch nicht, nachdem das landesherrliche Arsenal, das Zeughaus, die gesamte Artillerie des Landes aufnahm. Der Stadt gelang es nicht, den einheimischen Handwerken auf Dauer die Lieferungen für das Militär zu sichern. Dies galt vor allem für den militärischen Spezialbedarf, wie Kanonen, Büchsen, Harnische und andere Rüstungsgüter, es galt aber auch für die Lieferungen von Proviant, Schuhwerk und Uniformen, die durchaus vom lokalen Gewerbe hätten befriedigt werden können.

Allerdings fand auf einem anderen Gebiet eine Gewichtsverschiebung statt. In der durch den Festungsbau erweiterten Stadt wurde im Nordosten, ausgehend von der zweiten Burg, ein großes Areal für Zwecke des Landesherrn freigehalten. In diesem Bezirk entstand so etwas wie ein "Gießener Regierungsviertel". Mit dem Festungsbau war die Bedeutung der Stadt für den Landesherrn weiter gewachsen und machte nun Einrichtungen erforderlich, die die Stadt auch als Nebenresidenz tauglich machen sollten. In diesem Zusammenhang kam es zu einem für Gießener Verhältnisse monumentalen Ausbau landesherrlicher Repräsentations-, und Zweckbauten. Dazu gehörte zunächst 1533-37 der Bau des Neuen Schlosses. Allein schon durch seine Abmessungen (34,5 Meter Länge, 12 Meter Breite und 19,5 Meter Höhe) einer der bedeutendsten Fachwerkbauten Hessens, konnte der Bau im Schutze der Festungsmauern auf äußere Wehrhaftigkeit verzichten. Es wurde mehr auf Repräsentativität geachtet und so erhielt das Neue Schloß eher den Charakter eines Sommerschlößchens. Auch das Zeughaus, ein militärischer Zweckbau (gebaut in der Zeit von 1585-1590) sucht mit seinen Abmessungen von 85 Metern Länge, 22 Metern Breite und 26 Metern Höhe in Hessen seinesgleichen. Hinzu kamen in diesem Bereich unter anderem der Marstall, die Kellerei, die Zehntscheuer und das Haus des Stadtkommandanten (später altes Hofgericht).

Damit war zugleich eine wesentlich stärkere Präsenz der landesherrlichen Verwaltung in der Stadt gegeben. Zu den Amtleuten der zivilen Verwaltung und den Burgmannen in landesherrlichen Diensten kam nun noch die Militärverwaltung hinzu, die in viele Belange der Stadt reglementierend eingriff, die städtische Verwaltung überwachte und in Krisen- und Kriegszeiten vollständig das Kommando übernahm.

Wenn man die Festungsfunktion der Stadt für Gießen werten will, wird man zu dem Ergebnis kommen, daß zwar das städtische Siedlungsgebiet mit der Anlage der Befestigungswerke erheblich vergrößert wurde und die Bedeutung der Stadt und Festung im Vergleich zu anderen Städten des Landes stieg, Gießen selbst konnte daraus jedoch keinen wesentlichen Nutzen ziehen. Im Gegenteil: die Festung legte die Stadtentwicklung für Jahrhunderte fest und brachte für die Bürger zusätzliche Lasten in Gestalt von Wachdiensten und Leistungen für die Bauunterhaltung der militärischen Anlagen. Und auch auf militärische Gegner übte die Festung eine, aus der Sicht der Stadt, ungute Anziehungskraft aus. Feste Plätze wie Gießen wurden gerne besetzt, und das bedeutete für die Bürger nur noch mehr Aufwendungen für die fremden Truppen.
Ein gravierender Umschwung ergab sich aus der Teilung des hessischen Territoriums nach dem Tode Philipps des Großmütigen (1567) und dem schließlich im Jahre 1604 erfolgten Übergang Gießens an die Hessen-Darmstädter Linie. Für die Stadt brachte dies eine Aufwertung ihrer Position innerhalb des neuen kleineren Territoriums, da ihr nun die Funktion als Regierungssitz für die oberhessischen Landesteile zufiel.


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