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Vom Suchen, Finden und Archivieren - Ein Bewerbungsschreiben und seine nicht alltägliche Geschichte

Historische Streifzüge #2

Stadtarchive sind im Rahmen ihrer vielfältigen Aufgaben darum bemüht, das ‚Gedächtnis‘ ihrer Stadt zu pflegen und zu vervollständigen. Dabei erweisen sich nicht selten Sammlungen, Dokumente und Bilder aus privatem Besitz als außerordentlich ergiebig und weiterführend für die Erforschung und Aufbereitung der Stadtgeschichte.

„Ich erinnere mich genau, dass ich sie 1948 als Zehnjähriger auf Schatzsuche herzklopfend in der Ruine des Gießener Schlosses gefunden habe. Und dann bald vergessen habe“ – schrieb Harald Nestroy aus dem oberbayerischen Moosburg vor kurzem an das Stadtarchiv.

Es handelt sich um drei im Wesentlichen unversehrte handschriftliche Briefe an die „Großherzogliche Bürgermeisterei zu Gießen“ aus den Jahren 1892 bzw. 1897 – und zugleich um archivwürdige Dokumente, die nun nach einer mehr als 70 Jahre andauernden ‚Odyssee‘ an ihren heutigen Bestimmungsort, das Stadtarchiv Gießen, gelangt sind. Ihr Finder ist ein weitgereister ehemaliger deutscher Diplomat! Harald Nestroy war bis zu seiner Pensionierung im Jahre 2003 viele Jahre unter anderem als Kulturattaché, Generalkonsul und Botschafter in den USA, Costa Rica, in Asien und Afrika tätig. Anlässlich seines endgültigen Rückumzuges von Windhuk (Namibia) nach Deutschland vor zwei Jahren, ist der Botschafter a.D. beim Sichten und Aussortieren seiner Unterlagen dann auch wieder an seine Kindheit in Gießen erinnert worden – als er nämlich die jahrzehntelang aufbewahrten Originalbriefe in Augenschein nahm, weiterhin behielt und nun dem Stadtarchiv dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt hat.

Ruine des Alten Schlosses um 1947
Ruine des Alten Schlosses um 1947

Das Alte Schloss war – wie auch der Bergwerkswald – für die Gießener Nachkriegsjugend ein Abenteuerspielplatz par excellence, erinnert sich der ehemalige Schüler des Landgraf-Ludwigs-Gymnasiums. Man durchstöberte, wenn möglich, alle Räume und Plätze der Ruine und fand fast ausschließlich verbranntes Mobiliar, kaputte Geräte sowie zerstörte Exponate vor. Da waren die drei Originalbriefe, die der zehnjährige Abenteurer aus dem Schutt im Turm des Alten Schlosses bergen konnte, wirkliche ‚Schätze‘, mit denen man wohl auch imponieren durfte.

Der Fundort allerdings überrascht. Das Alte Schloss war bis zu seiner fast vollständigen Zerstörung in der Bombennacht vom 6. Dezember 1944 kein Aufbewahrungsort für amtliches Schriftgut der Stadtverwaltung, sondern 1905 als ‚Oberhessisches Museum‘ der Stadt Gießen eingeweiht worden, das die Sammlungen des Oberhessischen Geschichtsvereins und der Wilhelm-Gail-Stiftung beherbergte.

Bei den Briefen handelt es sich um insgesamt zwei Vorgänge, die seitens der Bürgermeisterei Gießen im Zusammenhang mit der Bewerbung zweier Kandidaten um je eine Stelle bei der Stadt als Architekt bzw. Ingenieur angelegt wurden.

Es sind interessante Mosaikstücke, die die Baugeschichte der Stadt Ende des 19. Jahrhunderts wieder ein wenig lebendig werden lassen. Während es über den „Baupolizeiinspekteur Bieber“ aber offenbar keine zusätzlichen Eintragungen und Spuren in der städtischen Überlieferung gibt, finden sich über den anderen Aspiranten weiterführende Informationen. Denn in den Datenbanken des Stadtarchivs ist eine Personalakte zu Johannes Sickert ausgewiesen. Aus dieser geht hervor, dass der Architekt vom „14.2.1893 bis 30.4.1898 als Gehülfe in etatsmäßiger, pensionsberechtigter Stellung“ angestellt war. Seine Bewerbung war also erfolgreich; wohl auch, weil er auf Bitten des Oberbürgermeisters Feodor Gnauth „selbstgefertigte Zeichnungen, wenn möglich neuerer Zeit“  in einem Begleitschreiben nachsandte.

In der Nachgründerzeit des Kaiserreiches florierte der Beruf des Architekten; nahmen die deutschen Städte in diesen Jahren doch enorme Modernisierungsprojekte für ihren Ausbau in Angriff. Auch Gießen befand sich um die Jahrhundertwende in einer großen Sanierungs- und Wachstumsphase, einem außerordentlichen ‚Bauboom‘. Johannes Sickert war in dieser Zeit – laut Personalakte – mit vielfältigen Aufgaben betraut: „Ausarbeitung von Plänen für Hochbauten, Anlagen, Stadterweiterung und innere Einrichtung von Schul- und Büreauräumen (..), die Erledigung kleinerer baupolizeilicher Angelegenheiten (..), sowie die Bauführung bei folgenden Neubauten: Forsthaus am Stadtwalde, Wärterwohnung für das städtische Wasserwerk in Queckborn, Thurmhaus am Brand (Feuerlöschgerätemagazin) nebst Marktlauben, Einfriedungen an der Senkenbergstraße und Erweiterungsbau für das Realgymnasium und die Realschule.“

Marktlaubenstraße mit neuem Feuerwehr-Turmhaus um 1895
Marktlaubenstraße mit neuem Feuerwehr-Turmhaus um 1895

So entstand unter der Sickertschen Regie im Jahre 1894 also auch das repräsentative Herzstück des heutigen Gießener Wochenmarktes – die Marktlaubenstraße mit ihren vor Regen schützenden Marktlauben, deren 13 Arkaden auch heute noch für einen pittoresken Anblick sorgen; denn auch sie wurden nach ihrer Zerbombung im Dezember 1944 so originalgetreu wie möglich wieder aufgebaut. Daneben wurde 1894 – weil die Gießener Feuerwehr sich neu organisieren mußte – das frühere alte Hofgerichtshaus zu einem neuen Feuerwehr-Turmhaus umgebaut, das im Erdgeschoss die notwendigen Geräte beherbergte und im Obergeschoss als Ausstellungssaal des Kunstvereins diente. Unten steht die Feuerspritz, oben hat die Kunst ihr‘n Sitz“ – so hieß es damals.

Nun wissen wir also ein wenig, wer hinter der Projektierung und Realisierung der vielbeachteten Marktlauben stand. Der erfolgreiche Architekt Johannes Sickert blieb allerdings nur fünf Jahre im Stadtbauamt und verließ Gießen im Mai 1898 „freiwillig auf eigenen Antrag“, um später bei der Oberpostdirektion in Leipzig zu arbeiten.

Der abenteuerliche Fund seines Bewerbungsschreibens, das nunmehr die Personalakte mit der Archivsignatur L 786-6 bereichert, stellt also die glückliche Fügung dar, den baugeschichtlichen Aufbruch um den Marktplatz Ende des 19. Jahrhunderts wieder etwas beleuchten und ‚beatmen‘ zu können.

 

Literaturtipp zur Geschichte des Gießener Wochenmarktes:
Constanza von Steuber: 100 Jahre Gießener Wochenmarkt 1894-1994
Verein der Gießener Wochenmarktbeschicker e.V.
Gießen 1994, 140 Seiten

 

Quelle: Eckhard Ehlers/Stadtarchiv

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