Erleben

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Gießen in Zeiten der Cholera

Historische Streifzüge #1

Dass die sprichwörtliche Wahl zwischen Pest und Cholera keine gute ist, leuchtet sofort ein. Denn verglichen mit einer Grippe – auch mit dem so tückischen Corona-Virus – lag die Gefahr, die Infektion nicht zu überleben, bei diesen Krankheiten um ein Vielfaches höher. Tatsächlich sind diese Seuchen heute praktisch von der Bildfläche verschwunden. Na ja, sie sind es zumindest in der sogenannten industrialisierten Welt, die ihren Nährboden: mangelnde Hygiene, weitgehend trockengelegt hat. In anderen Regionen der Welt, in denen Frieden und (relativer) Wohlstand fehlen, treten sie noch heute auf. In Madagaskar grassiert die Pest, im Jemen die Cholera.

Vergleiche hinken ja bekanntlich. Trotzdem macht der Blick in die Vergangenheit manchmal stutzig. Wir schreiben das Jahr 1892: Der Sommer ist heiß, und im August tritt die „asiatische Cholera“ in Hamburg und Altona auf und fordert tagtäglich mehr Menschenleben. Die durch Bakterien hervorgerufene und zuweilen epidemisch auftretende Krankheit äußert sich in starkem Durchfall und Erbrechen. Wie inzwischen bekannt ist, wird sie durch verunreinigtes Trinkwasser hervorgerufen. Ursache ist nicht zuletzt die in Mitteleuropa noch lange übliche Entsorgung von verderblichen Abfällen aus Küche und Abtritt (im Klartext: Kot und Urin) in die Straßengosse.

Auch in Gießen beobachtet man die Berichte und Zahlen aus dem Norden mit Sorge.  Die Verwaltung befindet sich in Alarmbereitschaft. Würde die diesmal aus Russland eingeschleppte Seuche auch nach Oberhessen gelangen? Und wie könnte ihrer Ausbreitung ein Riegel vorgeschoben werden?

Seuchengefahr und Alltagshelden

Diese Frage war nicht neu, hatten sich die Kreisverwaltung (staatlich) und Stadtverwaltung (kommunal) doch schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Gefahrenabwehr bei einem möglichen Cholera-Ausbruch beschäftigt. Bereits 1849 wurden hierzu logistische und gesundheitspolizeiliche Maßnahmen beschlossen. Es ging um die Unterbringung und Behandlung der Kranken, den Wasserdurchfluss des Stadtkanals und die Mitarbeit der Bevölkerung bei der Reinhaltung der Straßen, Kloaken und Winkel. Die Cholera kam zwar nicht; dafür blieb ihr bedrohlicher Schatten. Die heute im Stadtarchiv aufbewahrten Akten der Medizinal- und Santitätspolizei verraten, dass bei Hygiene und Wasserversorgung nach wie vor manches im Argen lag. So berichtete die „Cholera-Kommission“ 1867: „In Giessen aber geht der bei weitem größte Theil der Abtritte in offene Winkel ohne Senkgruben, der Koth breitet sich aus, wird durch Regenwasser pp und eingeführtes Küchenspüligt [= Abspülwasser] flüssig und es ist somit unmöglich, ihn in die Transportfässer aufzufangen, wie dies bei Latrinen geschehen kann“. Die Maßnahme dagegen: „Jeder Winkel ist mindestens alle 2 Wochen bei Strafe einmal geruchlos zu entleeren und der Koth vor die Stadt zu bringen“.

Schlammbeiser im 19. Jahrhundert in Gießen
Schlammbeiser im 19. Jahrhundert in Gießen

Wen wundert es da, dass Gießens Wahrzeichen ein Dienstleister ist, der sich um die Entsorgung menschlicher Hinterlassenschaften verdient machte? Einer, der den in den Fässern aufgefangenen „Schlamm“ aus den Abtritten mit Hilfe eines gekrümmten „Eisens“ hervorzog und fortschaffte – ein „Schlammbeiser“ eben. Später nutzte derselbe den Eisenhaken wohl eher dazu, die öffentlichen Kanäle zu reinigen und Verstopfungen zu beseitigen.

Die Dinge wendeten sich aber langsam zum Besseren. Eine neue Städteordnung vergrößerte 1874 die Handlungsspielräume der kommunalen Selbstverwaltung, und die Stadt machte davon z. B. Gebrauch, indem sie Hygiene und Gesundheit zu einem Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge aufwertete. Nachdem die Einwohnerschaft jahrhundertelang mehr schlecht als recht vor der eigenen Tür gekehrt hatte und Mahnungen oft ignoriert wurden, sprang die Stadt in die Bresche und regelte Bereiche wie Abwasserentsorgung und Straßenreinigung. Letztere übernahmen 1888 städtische Kehrmannschaften; zu Beginn waren das 22 Männer. Für Entlastung sorgte auch die 1883 in Betrieb genommene Tonnenanstalt – eine städtische Einrichtung, die gegen Gebühr den Abtransport von solchen Fäkalien stemmte, die aus den Außentoiletten in Bottiche gelenkt wurden. Eine regelrechte Kanalisation war aber noch in weiter Ferne, umso mehr gab die Cholera bei jedem Näherrücken Grund zur Besorgnis.

Kreis und Stadt im Krisenmodus

Damit kehren wir ins Jahr 1892 zurück. Dem Leser des Gießener Anzeigers (GA) standen am 19. August die Sorgenfalten auf der Stirn. Denn die Regierung des Großherzogs in Darmstadt kam angesichts der nun in Paris aufgetretenen Cholera zu einer kritischen Lageeinschätzung. In einer ausführlichen Anordnung informiert das Kreisamt auch Gießens Bürgermeisterei über Maßnahmen zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheitsverhältnisse (Prävention). Im Mittelpunkt steht die Frage: Wie halten es die Privathaushalte und Gewerbebetriebe mit der Reinlichkeit der Aborte und Abflüsse? Hier wird eine Inspektion angeordnet. Auch im öffentlichen Raum sollen Wachsamkeit und Disziplin walten. Die Kommunen müssen die Sauberkeit der Gossen, Schlammfänge und Abzugsgräben sicherstellen. Toiletten und Pissoirs „auf allen Eisenbahnstationen in Kranken- und Armenhäusern, Schulen, Haftlocalen, in Gasthäusern, Wirtschaften, Herbergen und Logishäusern, sowie in etwaigen für Arbeiter errichteten Cantinen und dergleichen“ sind mehrmals täglich mit Wasser zu spülen. Brunnen, Quellen und Leitungen sind für die Trinkwasserversorgung keimfrei zu halten. Übel ausdünstende Schlachthäuser und Hausschlachtereien sind unter „verschärfte Aufsicht“ zu stellen. Ganz wie heute, 2020 (d. h. in Corona-Zeiten), hofft die Verwaltung auf das Einsichtsvermögen der Gesellschaft. Dabei nimmt die Ebene des Staates die kommunale in die Pflicht: „Wir sind überzeugt, daß die Ortseinwohner bei sachgemäßer Belehrung aus freiem Antriebe Ihnen Ihre Aufgabe werden erleichtern helfen“. Atemschutzmasken, Beatmungsgeräte und Intensivbetten gibt es keine – trotzdem muss sich gekümmert werden um die Bereitstellung „besondere[r] Locale, in welchen eine hinlängliche Isolirung von Cholerakranken ermöglicht ist“. Denn Erfahrungen besagen, dass die Ausbreitung der Seuche nur verhindert wird, „wenn es möglich ist, den oder die ersten Erkrankten aus ihren Wohnungen und dem Verkehr mit anderen Personen zu entfernen“. Soweit also das Krisenmanagement von Großherzogtum und Kreisamt.

Besorgnis erregen inzwischen die Nachrichten aus Hamburg und Altona, wo der Cholera allein am 23. August 65 Menschen zum Opfer fallen. Tags darauf macht der GA eine Anzeigepflicht bekannt. Familien- und Haushaltsvorstände müssen Infektionen innerhalb von drei Stunden melden. Und am 27. des Monats teilt das Kreisamt mit, Städte und Gemeinden seien verpflichtet, „von jedem eintreffenden Besuch von auswärts, welcher hier übernachtet, spätestens am nächsten Morgen 9 Uhr Anzeige auf dem Polizeiamt schriftlich oder mündlich zu machen“. Aus Hamburg Eintreffende werden besonders beäugt. Zugleich wird in der besagten Zeitung notiert, die Behörden der Hansestadt hätten „die ersten Cholerafälle mit tadelnswerther Lässigkeit behandelt“, und es wird ermunternd bemerkt: „[W]enn jeder Einzelne der Bevölkerung die Anordnungen und Rathschläge der Behörden für seinen Theil befolgt und sie auch bei seinen Nebenmenschen nach Kräften zu befördern sucht, so kann die unheimliche Seuche schon im Voraus als besiegt betrachtet werden“.

Am 28. August veröffentlicht der GA eine Bekanntmachung des Polizeiamts, wonach Hausbesitzer für die „schleunige Entfernung aller faulenden oder den Uebergang in Fäulniß drohenden Gegenstände“ haftbar gemacht werden. Rinnsteine, Abzugskanäle und Winkel sind sauber zu halten; Kehricht gehört nicht in die Gosse und Abortanlagen sind regelmäßig zu desinfizieren; beim Obst- und Wasserverzehr ist Vorsicht geboten. Unterdessen geht Gießens Stadtbauamt den Mängelmeldungen nach. Dabei geht es in der Hauptsache um abgesenkte Pflastersteine in Abflussrinnen, die den Durchfluss hindern. Das eigentliche Problem liegt laut Polizei aber ganz woanders, nämlich bei der Entsorgung der Schmutzwässer. Ein systematisches Kanalnetz muss her.

Auszug Gießener Anzeiger vom 30.08.1892 - Bekanntmachung des Gesundheitsamts
Auszug Gießener Anzeiger vom 30.08.1892 - Bekanntmachung des Gesundheitsamts

 

Aufatmen und Modernisierung

Dann wird es etwas ruhiger. Am 7. September berichtet Stadtbaumeister Schmandt von  einer Verfügung des Kreisamts zur Reinigung, Spülung und Desinfektion der Gossen, Schächte und Kanäle sowie von der Verstärkung der Kehrmannschaft um 5 Personen. Laut Bericht des Polizeiwachtmeisters droht in Gießen Verschlammung, da das Gefälle zu niedrig ist, die Gräben keine feste Sohle haben und obendrein mit Unrat angefüllt sind. Entgegen der alltäglichen Praxis „sollte doch zu Zeiten drohender Seuchengefahr die Ableitung der Schmutzwasser in die Straßenrinnen von den Polizeibehörden aufs Strengste untersagt werden!“ Vielmehr müssten diese Abflüsse zum Straßensinkkasten gebracht oder in wasserdichte (auspumpbare) Gruben geleitet werden. Am 8. September befasst sich Gießens Ratsversammlung mit der unappetitlichen Materie und beschließt die chemische Untersuchung der öffentlichen Brunnen. Vom 22. September bis 8. Oktober sind drei jüngere Ärzte damit beschäftigt, die ein- und ausgehenden Bahnzüge medizinisch zu überwachen. Das Kreisamt lässt am 27. noch einmal eine Bekanntmachung mit Anti-Cholera-Maßnahmen im GA verbreiten: Die Ein- und Durchfuhr bestimmter Gegenstände aus Hamburgischem Staatsgebiet wird untersagt; u. a. gebrauchte Leib- und Bettwäsche, Lumpen, Obst, Butter, Weichkäse. Wäsche und Kleider von aus Hamburg kommenden Reisenden sind sofort „in einer öffentlichen Dampfdesinfections-Anstalt zu desinficiren“.

In Hamburg hat sich die Lage inzwischen etwas entspannt; es treten immer weniger Cholera-Fälle und Todesopfer auf. Die Not der Betroffenen ist trotzdem groß, und die Honoratioren Gießens wollen helfen. Am 30. September publizieren sie – darunter Oberbürgermeister Gnauth und der Fabrikant Wilhelm Gail – im GA einen Aufruf zur Sammlung für Hamburg, Altona und deren Vororte; sie bitten „um gütige Zuwendung zahlreicher Liebesgaben für die Bedrängten“. Durch Vermittlung der „neuen“ Kliniken wird die Ausstattung der städtischen Isolierbaracke u. a. um einen zweiten Krankentransportwagen ergänzt.

Letztlich ging die Cholera-Epidemie 1892 an Gießen vorüber. Die Zeitung und andere Quellen wissen nichts von einem lokalen Ausbruch und Infizierten. Auch, weil die Cholera durch verbesserte hygienische Bedingungen in vielen Regionen Deutschlands und Europas längst erfolgreich an der Verbreitung gehindert wurde.

Zugleich machte Gießen wichtige Fortschritte; hier wurde 1893 das Problem mit Engpässen bei der Wasserversorgung gelöst. So konnte nach Vereinbarung mit der Gemeinde Queckborn (heute zu Grünberg gehörig) das Trinkwasser von dort bezogen werden; das gilt bis heute. 1899 wurde ein Abwasserbeseitigungskonzept beschlossen, das die Entwässerung der Stadt, die Reinigung im Klärwerk sowie die Einleitung in die Lahn regelte. Die Abtritte wurden angeschlossen und die Gruben und Tonnen beseitigt. 1906 war der Bau der Kanalisation beendet, und das Klärwerk nahm den Betrieb auf.

Kanalisationsarbeiten in der Sandgasse um 1900
Kanalisationsarbeiten in der Sandgasse um 1900

 

Literaturtipp zur Modernisierung Gießens im 19. Jahrhundert, u. a. auch der (öffentlichen) Hygiene: Ludwig Brake: Auf dem Weg zur modernen Stadt: 1850 bis 1914, in: ders. u. Heinrich Brinkmann (Hrsg.; im Auftrag des Magistrats der Universitätsstadt Gießen): 800 Jahre Gießener Geschichte, 1197-1997, Gießen 1997, S. 182-214.

 

Quelle: Christian Pöpken/Stadtarchiv

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